© Ursula Schmitz
Alarmismus, negative Rhetorik, Stigmatisierung. Dicke Menschen sind ein Problem. Nein, sagt Martina „Bobby“ Herrmann-Thurner, die selbst seit ihrer Kindheit durch dauernde Herabwürdigung ihren Selbstwert verloren hat – bis die Wut kam, und mit ihr der Mut, sich gegen strukturelle Ungleichbehandlung stark zu machen.
„Dein Körper, deine Entscheidung“
Mit dieser Ansicht fordert die Magistra der Politikwissenschaft die gesellschaftliche Akzeptanz einer körperlichen Selbstbestimmung für Mehrgewichtige ein. So gründete „Bobby“ vor zehn Jahren das Curvect Plus Size Blogazine, wo sie über deren Bedürfnisse, über Plus Size Mode und Selbstakzeptanz schreibt. In ihrem Podcast „Fat Business“ gibt sie das Motto „Sprecht mit Mehrgewichtigen statt über sie!“ aus, und als Österreichs einzige Plus-Size-Expertin ist sie regelmäßig als Sprecherin auf Konferenzen, Podien und Events zu Gast. Ihr Buch „Fat Business“ versteht sie weder als Ratgeber noch Rechtfertigung, sondern als kraftvolle Abrechnung und politische Forderung gegen strukturelle Ungleichbehandlung – wissenschaftlich fundiert und schonungslos erzählt, mit so manch peinlichen Momenten, die sie erleben musste…
Bobby, worunter leiden Plus-Size-Frauen am meisten?
Wenn wir dicke Frauen fragen würden, dann wäre die Antwort eventuell: am dicken Bauch, an den breiten Oberschenkeln oder den wabbeligen Oberarmen, denn wir haben als dicke Frauen schon viel zu lange gelernt, dass wir, dass unsere Körper nicht dem entsprechen, was allgemein als schön und gesellschaftlich akzeptabel gilt. Ich selbst sage: am meisten leiden wir an oder besser unter den Vorurteilen, die uns entgegengebracht werden. Wir seien faul, dumm, kümmern uns nicht um uns selbst – das sind nur einige der Dinge, die man über dicke Menschen ganz allgemein denkt. Vor allem dicke Frauen leiden unter der gängigen Schönheitsnorm, der sie nicht entsprechen. Darüber hinaus wird niemand gerne ausgelacht, geringgeschätzt und diskriminiert. Auch wenn es nicht jede dicke Frau so benennen würde – all dies belastet uns.
Bei einem erhöhten Body-Mass-Index heißt der ärztliche Rat meist: Ernährung optimieren und abnehmen. Wann beginnt die medizinische Diskriminierung?
Die Diskriminierung kann schon beim Öffnen der Praxistür beginnen, beim ersten Blick auf die dicke Patientin. Danach kann Diskriminierung im medizinischen Bereich sehr unterschiedlich ausfallen, von „nehmen Sie ab, dann haben Sie keine Probleme mehr“ und ungenauen Anamnesen über „Sie können sich mit diesem Gewicht nicht auf diese Liege legen“ bis hin zu „Ich operiere Sie nicht, bis Sie nicht Gewicht verlieren, Ihre Schmerzen müssen Sie aushalten, bis Sie abgenommen haben“. Es gibt leider unglaublich viele Erzählungen von mehrgewichtigen Patientinnen. Das Fazit für viele: da gehe ich nie wieder hin.
War der BMI eine Fehlentscheidung?
Der BMI ist auch in der Wissenschaft umstritten. Mediziner sind sich hier keinesfalls einig, den BMI als probates Mittel zur Ermittlung des Gesundheitszustandes von Patienten heranzuziehen. Mit dem heutigen Wissensstand wäre es längst an der Zeit, den Gesundheitszustand dicker Menschen anders festzustellen. Der BMI ist eine Formel, die ausgedient haben sollte.
Wann wurde aus deiner Wut eine Berufung?
Die Entscheidung für meinen Beruf fiel nicht aus Wut heraus aufs Plus-Size-Bloggen, sondern ging von dem Standpunkt aus, dass Plus Sizes mehr verdienen: mehr Anerkennung, abwechslungsreichere Mode, mehr Selbstwert und vor allem mehr Mitsprache bei Entscheidungen, die vor allem auch sie betreffen. Die Wut ist schon lange ein Begleiter, aber mehr im Sinne von „das macht mich wütend und wie verändere ich diesen Zustand“. Ich halte nichts davon, an Wut einfach festzuhalten, sondern sehe sie als Grundlage für Initiativen, die eine Verbesserung herbeiführen können. Wut braucht einen Kanal, und im besten Fall entsteht etwas Produktives daraus.
Welche politische Dimension hat die von dir bevorzugte Bezeichnung „Mehrgewicht“?
Wenn wir von dicken Menschen sprechen, dann sprechen wir meist „nur“ über deren Gesundheitszustand, vollkommen unabhängig davon, wie es diesen dicken Menschen wirklich geht. Wir sehen Mehrgewichtige und sofort kommt es zur Gesundheitsdebatte. Diese in Fachkreisen „Medikalisierung“ genannte Herangehensweise bedeutet, dass wir dick nur mit Krankheit und Medizin verbinden, aber Gewichtsdiskriminierung hat viel größere Dimensionen. Dicke Menschen werden aufgrund ihrer Körper benachteiligt, leider nicht „nur“ im medizinischen Umfeld, sondern z.B. auch in der Arbeitswelt. Doch die sozioökonomischen Faktoren wie Bezahlung oder der Zugang zu Lebensmitteln werden nie besprochen. Sie haben allerdings erhebliche Auswirkungen auf das Leben dicker Menschen.
Begriffe wie Mehrgewicht sollen das Thema aus der Gesundheitsdebatte herausheben, denn Dicksein ist nicht einfach ein Thema für die Medizin. Es gibt viele Gründe, warum Menschen dick sind. Kein Grund rechtfertigt ihre Diskriminierung. Das sind höchst politische Themen und genau so müssen sie auch angegangen werden. Hier gilt es umzudenken und eine gesellschaftliche Debatte darüber, wie wir mit Mehrgewichtigen umgehen, zu starten.
Body Positivity und Fat Acceptance: Warum sind die Wörter „dick“ und „fett“ für dich keine Beleidigung mehr?
Ob dick oder fett – das sind für mich einfache Adjektive. Sie beschreiben meinen Körper. Ich verbinde damit nichts Negatives. Aktivistinnen benützen diese Begriffe ganz selbstverständlich, auch um Menschen, die Mehrgewichtige diskriminieren, nicht die Deutungshoheit über diese Worte zu lassen. Wir holen uns die Deutungshoheit zurück und lassen es nicht zu, dass man uns so versucht zu beleidigen und herabzuwürdigen.
Mit Pillen, Shakes, Diätmenüs bis zur gehypten Abnehmspritze und zur Magenbypass-OP werden Milliarden umgesetzt. Ein echt fettes Business, oder?
Ein sehr fettes Business! Wie Sie sagen, die Diätindustrie ist milliardenschwer, und wir sprechen hier von Hunderten Milliarden. Ein sehr nachhaltiges Geschäft, denn mit Unsicherheiten und vermeintlichen Makeln kann von Generation zu Generation viel Geld verdient werden. Nicht alles ist gleich, ein Diätshake ist eine andere Kategorie als ein Medikament – im Endeffekt aber bleibt: wir geben Unmengen für Produkte aus, die uns schlanker und dadurch vermeintlich schöner oder auch gesünder machen sollen. In vielen Fällen zweifle ich aber an, dass es um unsere Gesundheit geht. Denn redet man Menschen jahrzehntelang ein, dass sie nicht schön sind, dass sie nur krank sein können, ohne den Gesundheitszustand der Personen wirklich zu kennen, glauben sie es irgendwann. All die Selbstzweifel und Ängste können dann gut monetarisiert werden.
Deshalb ist ein ganzheitlicherer Blick auf dicke Menschen so wichtig. Zu glauben, ihnen durch Angst machen zu einem besseren Lebensstil verhelfen zu können, ist der vollkommen falsche Weg. Mehrgewicht hat viele Gründe, das weiß auch die Medizin mittlerweile. Nicht jeder dicke Mensch ist krank, ebenso wenig wie jeder dünne Mensch gesund ist. Wieso darf man Mehrgewichtige ganz ohne jegliche Konsequenz beleidigen, beschimpfen, schlechter stellen, ihnen repräsentative Jobs verweigern – die Liste ist endlos. Wieso ist das ok? Warum stellen wir uns diese Fragen nie?
Wie kommt frau von der Wut im Bauch zu einer gesunden Selbstermächtigung?
Nicht von heute auf morgen. Es ist ein langer Weg, denn Unsicherheiten und Selbstzweifel werden uns schon von Kindesbeinen an mitgegeben. Ich empfehle immer: Lest Bücher über Body Positivity, Bodyshaming, Bücher von Menschen, die sich bereits mit den Themen auseinandergesetzt haben, die einen guten Weg mit ihren dicken Körpern gefunden haben und die euch so helfen können. Folgt Menschen auf Social Media, die euch Vorbilder sein können. Sehr, sehr schwierig, aber wichtig: Trennt euch von Menschen, die euch nicht gut behandeln, die euch runtermachen, ihr seid so viel mehr wert! Es gibt Menschen, die euch mögen, die euch unterstützen, genauso wie ihr seid. Eure dicken Körper machen euch nicht wertlos oder zu schlechteren Menschen, lasst euch schlechte Behandlung nicht länger gefallen! Wenn Probleme besonders tief sitzen, dann holt euch professionelle Hilfe und arbeitet an euch. Schließt euch auch zusammen, denn in der Gruppe kann man Dinge besser besprechen und Erfahrungen teilen. Denn: Ihr seid nicht allein!
Du kannst Bobby folgen:
www.curvect.com
Insta: @bobby_curvect
_____________