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Diagnose „Liebessucht“. Eine Betroffene erzählt, warum sie süchtigen Gedanken verfällt, Gefühle sexualisiert und wie emotionale Abhängigkeit ihren Alltag beeinflusst.
Mehrmals am Tag masturbieren und ständig auf der Suche nach sexuellen Reizen. Wenn Sex in Sucht umschlägt, ist er nicht mehr lustvoll, sondern belastend. Etwa fünf Prozent der Österreicher:innen – unabhängig von Gesellschaftsschicht und Alter – leiden daran.
Stress, Schuld, Einsamkeit, Scham oder Angst werden sexualisiert – und Sex dazu benutzt, um einen Ersatz für Liebe und Fürsorge zu erhaschen. Oftmals ist ihr Verlangen nach Sex und Romantik so groß, dass es sich negativ auf ihre mentale Gesundheit und ihre Beziehungen auswirkt. Manche vernachlässigen dadurch sogar ihre Pflichten und verlieren schlimmstenfalls ihren Job.
Die Auswirkungen können also wirklich gravierend sein. Auch die Grazerin Maja (49) erkannte vor fünf Jahren, dass sie weniger sexsüchtig, jedoch liebes- und fantasiesüchtig ist. Dass sie regelmäßig Personen verfalle, die unerreichbar oder emotional nicht verfügbar sind, ist Wesen ihrer Sucht. Das ist dann der Punkt, wo Menschen zur Droge für Maja werden. Ein langer Leidensweg, der mehr ist als nur sexueller Kick. Es ist der ewige Versuch, ein emotionales Loch zu füllen, das man letztendlich ausschließlich selbst schließen kann.
Ich kann Menschen benutzen wie Drogen.
Maja
Wann hast du bemerkt, dass du an Liebes- und Fantasiesucht leidest?
Maja: Ich habe vor fünf Jahren bemerkt, dass ich unter dieser Krankheit leide, als ich das Buch ,Die Flucht vor der Nähe‘ von Anne Wilson Schaef gelesen habe, an einem ,Leben im Prozess‘-Workshop von ihr teilgenommen habe und bereits viele Jahr bei den Anonymen Alkoholikern im Zwölf-Schritte-Programm in Genesung war. Einige ganz normal wirkende Frauen haben sich dort als liebes- und romanzensüchtig bezeichnet. Da konnte ich nicht mehr ignorant gegenüber meinem Verhaltensmuster sein.
Was ist die emotionale Wurzel deiner Abhängigkeit?
Aufgrund meiner emotionalen Vernachlässigung in der Kindheit habe ich früh mit Fantasien und Tagträumereien die Flucht vor der Wirklichkeit angetreten. Mir war klar, dass ich jemanden brauche, der mich aus diesem Jammertal rettet und der mich für all meine unerfüllten Bindungsbedürfnisse entschädigt, die mir nicht erfüllt wurden. All das habe ich bekommen, als ich mit dem Bewältigungshelfer Alkohol und Tabletten meine Angst vor anderen Menschen, vor Zurückweisung und vor dem Verlassenwerden im Zaum halten konnte. Meistens waren Beziehungen nach dem anfänglichen Hoch schnell langweilig oder nicht das, was ich mir erhofft habe. Ich dachte, es bräuchte nur den einen Richtigen und mein Leben wäre endlich lebenswert.
Was ist der Unterschied zwischen Sex- und Liebessucht?
Jeder Mensch hat unterschiedliche Präferenzen, sich taub zu machen bzw. keine echte Nähe zulassen zu müssen. Wenn es mir nur um oberflächlichen Sex geht, bin ich genauso sicher vor ehrlicher Intimität, wie wenn ich mit einem Fantasiepartner verheiratet bin oder wenn ich eine Beziehung nach der anderen verheize. Der intensive Flash beim Verlieben und beim sexuellen Ausagieren ist gleich. Ich erlebe einen Rausch, die Wirklichkeit zählt nicht mehr, ich erhalte die Form von Aufmerksamkeit, die ich brauche.
Welche Auswirkungen hatte die Liebessucht auf dein Leben?
Ich schreibe schon viele Jahre als Romanautorin mit starkem Bezug auf das Suchtsystem. Das ist vielleicht die einzige positive Auswirkung. Ansonsten ist diese Krankheit ein fortschreitender, destruktiver Prozess, der ins Burn-out, zur Vernachlässigung von Pflichten, zu kaputter Selbstachtung, Kriminalität oder suizidalen Absichten führt. Manche erleben einen Tiefpunkt, der sie in die Genesung bringt. Bei mir war es die Angst vor einem weiteren Beziehungsabbruch, dem anschließenden Entzug und den Seelenqualen, die mich meine eigene Heilung priorisieren ließ.
Welche Gedanken spielen sich bei dieser Abhängigkeit im Kopf täglich ab?
Ich bin nicht nach aufrichtiger Liebe süchtig, sondern nach der Verblendung, die mir Entspannung beschert. Oft flirte ich mit Personen, mit denen ich gar nicht zusammen sein will, oder bin der festen Überzeugung, der Kassier vom Supermarkt steht auf mich. Ich kann Liebe sehen, wo es keine gibt. Dazu reicht ein mäßig freundliches Verhalten von gewissen Menschen aus. Das ist eine Überlebensstrategie, die mich über die emotional entbehrungsreiche Kindheit gerettet und mir geholfen hat, den Schmerz auszuhalten, jetzt aber extrem kontraproduktiv ist, weil sie mich aus der Realität katapultiert.
Ich kann Liebe sehen, wo es keine gibt.
Maja
Das Wesen meiner Sucht ist es, regelmäßig Prsonen zu verfallen, die unerreichbar oder emotional nicht verfügbar sind. Ich kann Menschen benutzen wie Drogen und wenn sie mir langweilig werden oder meinen überzogenen Fantasievorstellungen nicht entsprechen, lass ich sie fallen und leide entsetzlich. Und dann brauche ich wieder einen fixen Partner, also jemanden, der mich repariert. Heute kann ich damit aufhören, süchtige Gedanken weiterzuverfolgen, wenn ich mir meine Machtlosigkeit eingestehe.
Heute nimmst du an Selbsthilfegruppen teil?
Wir teilen in den Meetings Erfahrung, Kraft und Hoffnung. Einerseits weiß ich durch die anderen, dass ich mit meinen Problemen nicht allein bin, andererseits kann ich mich einbringen und Dienst leisten, der mir meine Nützlichkeit und einen Lebenssinn zurückbringt. Die Isolation nährt Süchte. Ich bin auf eine intakte Gemeinschaft angewiesen, wenn ich von meinen Süchten genesen will, genau das ist es, was in unserer Gesellschaft größtenteils zerstört wurde.
Wie hat dich das verändert?
Ich agiere weniger in der Fantasie aus, ich isoliere mich weniger, ich habe Zukunftsvisionen und weniger Angst vor dem Leben. Über das Arbeiten im Programm habe ich angefangen, Vertrauen in andere Menschen aufzubauen. Dazu gibt es erfahrene Personen bzw. feste Ansprechpartner:innen, die dich durch die zwölf Schritte unseres Genesungsprogramms führen. Hin und wieder möchte ich auf den Putz hauen und mir eine gescheite Dröhnung verabreichen, um mich maximal flachzulegen. Aber ich habe keine Lust mehr auf den Kater und die Schamgefühle. Außerdem möchte ich nicht mein Leben mit der Sucht vergeuden. Dafür ist mir die Zeit in der Realität zu kostbar geworden.
Wie sieht ein typischer Tag für dich aus, seitdem du aktiv an deiner Genesung arbeitest?
Ich folge einer Routine aus Meditation, Selbstreflexion, aktivem Austausch und Servicetätigkeiten in den Meetings. Dass ich mich mit anderen Menschen verbinde, die im Programm sind, ist für mich das Allerwichtigste. Außerdem versuche ich, nicht in Ersatzsüchten auszuagieren. Herauszufinden, was mir guttut, was ich machen kann, um mich gut zu spüren, um im Hier und Jetzt zu leben, ist eine konstante Herausforderung. Da habe ich sicher noch einiges zu lernen.
Informationen zu den Onlinemeetings der Selbsthilfegruppe und mehr zu den Merkmalen der Sucht gibt es auf www.slaa.de
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Die Autorin dieses Beitrags:
Yvonne Hölzl, Redakteurin der STEIRERIN, ist verantwortlich für die Rubrik Style und Wohnen. Neben ihrer Kreativität beim Schreiben zeigt sie auch handwerkliches Geschick, wenn sie handgemachte Strickwerke zaubert. In ihrer Freizeit ist die Naturliebhaberin mit ihrem Windhund Toto oft im Wald anzutreffen.
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