Die Netzamazonen: Was bei digitaler Gewalt zu tun ist
Die unsichtbare Pausetaste
© Vandehart Photography
Tempo raus. Keine Antwort muss sofort sein. Gerade bei digitaler Gewalt im Nahverhältnis ist überlegtes Handeln blitzartigem Blockieren vorzuziehen, sagen die Netzamazonen.
Digitale Gewalt im jungen Alter
Als es noch keine Smartphones und kein Social Media gab, hörten Mädchen schon ab der Schule: „Ihr seid selber an Übergriffen schuld, wenn ihr euch freizügig kleidet.“ Sie hören das heute leider immer noch. Heute wird ihnen außerdem gesagt: „Dann geht halt nicht auf Social Media oder löscht euren Account, wenn ihr belästigt, beleidigt, beschimpft werdet.“
Der digitale Raum ist kein anderer Planet, dort passiert das, was auch in der analogen Welt passiert. Und auch dort gilt, dass die gesamte Gesellschaft dafür verantwortlich ist, dass nicht Opfer, sondern Täter zur Verantwortung gezogen werden müssen, betonen Expert:innen. Wir können uns austauschen und vernetzen, gegen Rassismus und für den Umweltschutz aktiv sein, recherchieren und Spaß haben – und uns sogar verlieben. Warum sollten wir auf die digitale Welt verzichten?
2023 gab der Wiener Verein „Frauen* beraten Frauen“ das wertvolle Handbuch „Ist das schon Gewalt? – Gewalt erkennen und verändern“ heraus (kostenlos download- und anfragbar); druckfrisch halten wir nun die ebenso sehr empfehlenswerte Fortsetzung in Händen: „Ist das schon digitale Gewalt?“. Recherchiert und verfasst wurde es von den „Netzamazonen“; sie formierten sich innerhalb des Vereins.
Im Zuge eines Projekts unternahmen die Mitarbeiterinnen Monate lang intensive Tauchgänge in Internet und Co. und fördern nun ans Tageslicht, was ihnen ins Netz ging. Wir trafen zwei der vier Netzamazonen (siehe Info) – Johanna Enzendofer und Anica Popović – zum Gespräch.
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Die Netzamazonen im Interview
Was verstehen Sie unter digitale Gewalt?
Johanna Enzendorfer: Es sind Menschen, insbesondere Frauen (den Stern verwendet der Verein für die Vielfalt an Frauen abseits der gewohnten „biologischen Einteilung“, Anm.) verachtende Handlungen im digitalen Raum und mittels vieler smarter, internetfähiger Geräte. Wir haben versucht, im Handbuch die drei häufigsten Formen zu erfassen: Das sind Übergriffe im Internet in Form von gewaltvollen, hasserfüllten Botschaften und Beleidigungen, oftmals anonym, sowie Grenzüberschreitungen im Kontext von Online-Dating, also beim Übergang vom öffentlichen Raum hin zu einem sozialen Nahverhältnis.
Der dritte große Bereich ist der, wovon wir in der Beratung am häufigsten erfahren: Übergriffe und Gewalt durch Partner und Expartner; Frauen* werden kontrolliert und mit digitalen Mitteln unter Druck gesetzt.
Anica Popović: Viele Frauen* sagen schon zu Beginn des Beratungsgesprächs: „Ich werde abgehört.“ Wir ergründen gemeinsam Schritt für Schritt, ob das sein kann. Das ist eine Gratwanderung: Wir nehmen das ernst, bemühen uns aber gleichzeitig, keine Angst zu machen. Denn wenn der Verdacht mehrere digitale Geräte betrifft, kann sich das schnell sehr überfordernd anfühlen.
Johanna Enzendorfer: Der Verdacht kontrolliert zu werden, hat für die Klientinnen etwas sehr Beängstigendes. In diesen Fällen bleibt die Gewalt oft nicht im Online-Raum; es wird gedroht, dass jemand zuhause aufgesucht, bei der Arbeit abgepasst oder von außen beobachtet wird. Die Räume sind sehr miteinander verwoben.
Das kann zu einem sehr belastenden Ohnmachtsgefühl führen, gar nicht mehr zu wissen, wo überall Überwachung stattfindet.
Bewahrheitet sich die Befürchtung der Frauen, dass sie abgehört werden?
Anica Popović: Ja, immer wieder. Das Wichtigste ist die Gefahrenabklärung. Wir können nicht einfach sagen: Blockieren Sie ihn, löschen Sie alles. Das würde auch bedeuten Beweise für Polizei und Justiz zu verlieren. Und das kann die Gefahr steigern, im schlimmsten Fall zu physischer Gewalt führen.
Digitale Gewalt ist nicht eine weitere Gewaltform, sondern ein eigener Raum, in dem alle Gewaltformen, von sexualisierter bis hin zur ökonomischen Gewalt, stattfinden. Mit schnellen Interventionen kann die Frau noch mehr gefährdet werden.
Johanna Enzendorfer: Jede Veränderung auf dem potenziell überwachten Gerät wird bemerkt – und der Täter hat das vielleicht nicht gern, dass er plötzlich nur noch eingeschränkten oder keinen Zugriff hat und drückt seine Wut und Aggression womöglich auf einem anderen Weg aus.
Unsere Haltung in der Frauen*beratung ist: Wir machen keine Unterschiede, es geht um Gewalt in einem anderen Raum. Wir versuchen gemeinsam, Komplexität zu reduzieren und Verdachtsmomente zu ergründen.
Wie sehen diese aus?
Johanna Enzendorfer: Der Klientin* fällt am Handy eine App auf, die sie nicht selbst installiert hat, „Stalkerware“ benötigt außerdem viel Akkuleistung …
Anica Popović: Er weiß mehr, als sie erzählt, taucht wie zufällig dort auf, wo sie ist. Diese Dinge sind sehr quälend. Eine große Gefahr geht also auch im digitalen Raum von Partnern und Expartnern aus.
Für Gewaltschutz und Verhinderung von Gewalt ist grundsätzlich die gesamte Gesellschaft zuständig.
Johanna Enzendorfer, Teil der Netzamazonen
Ganz allgemein: Wie können wir uns vor digitaler Gewalt schützen?
Johanna Enzendorfer: Die Möglichkeiten für Prävention, Selbstverteidigung und Selbstschutz hängen immer von den zur Verfügung stehenden Mitteln ab: von Unterstützungsnetzwerken, sozialen und finanziellen Ressourcen, wenn es etwa darum geht, wegen einer übergriffigen Person ein neues Smartphone kaufen zu müssen.
Die Frage ist auch noch, ob ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, weil man vielleicht gemeinsame Kinder hat. Das Wichtigste ist aber: Für Gewaltschutz und Verhinderung von Gewalt ist grundsätzlich die gesamte Gesellschaft zuständig. Gewalt ist kein individuelles Problem.
Wir haben trotzdem auch individuelle Handlungsspielräume: Es ist allgemein hilfreich, über Dynamiken, Algorithmen und Verbreitungsgeschwindigkeit im Internet Bescheid zu wissen oder wie man jemanden meldet oder wegen übergriffiger Postings blockiert, wenn man beispielsweise von anonymen Tätern belästigt wird.
Auch wichtig: Bevor man intime sensible Inhalte teilen möchte, sollte man sich Zeit nehmen zu überlegen, und auch eine Online-Dating-App kann man sehr bewusst wählen.
Wie wählt man aus?
Anica Popović: Man kann vorab recherchieren, am besten ist es aber downzuloaden und zu swipen, um ein Gefühl dafür zu kriegen: Ist es das Richtige für mich? Bei Tinder ist das Foto beispielsweise sehr prominent, die Zeichenanzahl darunter ist sehr begrenzt, bei OKcupid kann man viele Fragen beantworten und über Bumble wird gesagt, sie sei eine feministische App, die Frau* darf zuerst schreiben.
Alle haben im Hintergrund Aussiebeprozesse, das Matchmaking basiert auf den Eigenschaften, die man selbst anklickt – und dem Algorithmus, der im Hintergrund wirkt.
Ist hier das Bauchgefühl gefragt?
Anica Popović: Ja, aber durch die Schnelligkeit der Apps kann das schwierig sein; manchmal sind mehrere Chats offen, vielleicht sogar in zwei Apps auf einmal. Darum sind wir immer für die „Pausetaste“, sich kurz zu besinnen und selbst zu fragen: Wie geht es mir jetzt?
Johanna Enzendorfer: Es kann sehr schnell ein Sog entstehen, ein Gefühl von „ich muss dranbleiben“. Die Sorge, wenn ich einen Tag nicht da bin, verpasse ich viele Chancen.
Auch im digitalen Raum wirken Konkurrenzdruck und ökonomische marktorientierte Mechanismen; die Nutzer:innen beschreiben Stress, Überforderung und Erschöpfung. Sich immer wieder zurückziehen, um zur eigenen Wahrnehmung zu kommen, ist wichtig.
Anica Popović: Aufgefallen ist uns, dass schnell romantische Gefühle entstehen, eine Illusion von echter Intimität. Es kann beim ersten Date ganz anders sein. Wenn er dann die Rechnung zahlt, kann es sein, dass sie sich schuldig oder zu einer Gegenleistung verpflichtet fühlt.
Es gilt aber immer: Nichts ist selbstverständlich, alles soll im Einvernehmen geschehen. Ich möchte informieren, aber nicht abraten, viele Leute lernen sich erfolgreich über Dating-Apps kennen.
Was halten Sie von Sexting?
Anica Popović: Im Einvernehmen ist das lustvolle, erotische Schreiben, das auch Bilder oder Videos beinhalten kann. Man muss einfach eine Reflexionsspur einziehen und dabei nicht nur im Moment sein, sondern auch überlegen: Wie gut kenne ich den?
Wenn nackte Körperteile verschickt werden, sollte man das ohne Gesicht tun. Ich werde als Frauen*beraterin nicht sagen: Machen Sie das nicht. Ich würde sagen: Wägen Sie das ab.
Johanna Enzendorfer: Es geht um Reflektieren, auf Pause drücken, Druck rausnehmen. Es muss bei diesen Dingen immer möglich sein, bis zum nächsten Tag zu warten und sich die Frage zu stellen: Könnte ich das bereuen?
Anica Popović: Allein schon die Gewissheit, jemand ist im Besitz von bestimmten Fotos, kann belastend sein, selbst wenn es womöglich nicht einmal mehr einen Kontakt gibt.
Gefragt ist ebenso die Initiative der Mitlesenden: Passiert etwas Übergriffiges, kann Gegenrede betrieben werden.
Johanna Enzendorfer, Teil der Netzamazonen
Wie sieht es mit präventiven Einstellungen am Smartphone selbst aus?
Johanna Enzendorfer: Es können viele Dinge allgemein reguliert werden: Standort-, Kamera- und Audio-Zugriff können deaktiviert und für einzelne Anwendungen aktiviert werden. Man findet viele Sicherheitsleitfäden im Internet.
Anica Popović: Wenn man gerade wenig Zeit investieren kann, sollten jedenfalls regelmäßig Handyupdates gemacht werden, die betreffen oft die Sicherheit, und insbesondere das Passwort des Emailaccounts sollte regelmäßig gewechselt werden.
Viele überlassen das Einrichten vom Handy automatisch dem Partner; wir möchten gerne ermutigen, an die eigenen technischen Fähigkeiten zu glauben. Auch wenn eine Beziehung gut läuft, ist die digitale Privatsphäre etwas, das man sich vorbehalten darf. Es ist kein Liebesbeweis, Passwörter herauszugeben.
Auch wir nehmen nicht das Handy unserer Klientinnen in die Hand. Wir leiten lediglich an.
Johanna Enzendorfer: Dieses Anleitende hat für uns die Botschaft: Die Klientin kann sich selbst nach der Beratung entscheiden, was sie umsetzen möchte, was nicht. Das ist etwas Unverbindliches im positiven Sinn.
Was tun, wenn ein Übergriff im Netz passiert?
Johanna Enzendorfer: Da ist es fast ein automatischer erster Schritt, dass man sich aus dem digitalen Raum zurückzieht. Es sollte aber nicht in einem langfristigen Rückzug resultieren; das wäre „Silencing“, ein Verdrängen aus einem Raum, der zur Verfügung stehen sollte – ein Stummmachen etwa durch ein Hassposting.
Ein kurzzeitiger Rückzug kann aber sehr entlastend sein. Wenn etwas Übergriffiges passiert, sofort dokumentieren. Das ist für betroffene Personen oft eine zusätzliche Belastung, aber später sehr hilfreich, wenn rechtliche Schritte eingeleitet werden sollen oder auch für sich selbst.
In der Regel reichen Screenshots, auf denen das Medium ersichtlich ist und die Metadaten gespeichert sind; dabei können vertraute Personen und Beraterinnen unterstützen. Zara hat eine eigene Abteilung gegen Hass
im Netz, an die man sich österreichweit wenden kann.
Gefragt ist ebenso die Initiative der Mitlesenden: Passiert etwas Übergriffiges, Gewaltvolles, kann Gegenrede betrieben werden, das Publikum kann dagegen argumentieren – und es kann der betroffenen Person auch eine private Nachricht geschickt werden, indem Hilfe angeboten wird. Das ist digitale Solidarität.
Das sind die Netzamazonen
Die Netzamazonen sind die psychosozialen Beraterinnen Johanna Enzendorfer und Anica Popović sowie die Psychologin Lena Neuber und die Politologin Julia Schaffner; sie sind Mitarbeiterinnen des Wiener Vereins „Frauen* beraten Frauen*“.
Sie sind Autorinnen des Handbuches „Ist das schon digitale Gewalt?“ (unter Mitarbeit von Katharina Ebert, Maria Schiestl und BettinaZehetner). Das Buch gibt es auf der Website zum Downloaden, die analoge Version kann kostenlos angefragt werden. Zudem halten die Netzamazonen zum Thema Vorträge und Workshops nach Vereinbarung.
Gewaltbetroffene können sich kostenlos an folgende Hilfestellen wenden:
ZARA Gegen Hass im Netz (Mo – Mi, Fr: 10.00 – 15.00, Do: 10.00 – 18.00): 01 / 929 13 99, http://www.zara.or.at/de
Frauenhelpline (Mo–So, 0–24 Uhr): 0800 / 222 555, http://www.frauenhelpline.at/
Gewaltschutzzentren: 0800 / 700 217, https://www.gewaltschutzzentrum.at/
Männerberatung (Mo–So, 0–24 Uhr): 0800 / 400 777, https://www.maennerinfo.at/
Männernotruf (Mo–So, 0–24 Uhr): 0800 / 246 247, https://maennernotruf.at/
Telefonseelsorge (Mo–So, 0–24 Uhr): 142, https://www.telefonseelsorge.at/