Ein Teelöffel Unterschied
Seit jungen Jahren steht die Schauspielerin Katharina Stemberger auf, wenn sie Ungerechtigkeiten ortet – nicht furchtlos, aber unbeirrbar. In ihrem Buch gewährt sie erstmals auch Einblicke in ihr Privatleben. Ehe sie in Litschau gastiert, haben wir sie zum Interview getroffen.
© Joseph Schimmer/ ORF
Die Flammen lodern bedrohlich, im Haus sind noch viele Menschen. Sie stehen davor, was tun Sie?
1. Sie rennen so schnell Sie können, um sich selbst in Sicherheit zu bringen.
2. Sie schreiben einen empörten Brief an eine große Zeitung, um sich über mangelnde Sicherheitsvorkehrungen zu beschweren.
Oder: 3. Sie nehmen einen Kübel Wasser und schütten ihn aufs Feuer. Wenn Sie keinen Kübel haben, dann ein Glas, und wenn Sie kein Glas haben, nehmen Sie einen Teelöffel.
„Jeder hat einen Teelöffel“, lautet die Botschaft des „Ordens der Teelöffel“, den der israelische Schriftsteller Amos Oz gründete. Ein winziger Löffel als Anstecknadel ist das verbindende Symbol der Anhänger des Friedensprojekts.
„Jede und jeder von uns trägt ein Achtmilliardstel Zivilgesellschaft in sich. Und kann, wenn er oder sie will, ein Achtmilliardstel Zivilcourage daraus machen“, schreibt Katharina Stemberger in ihrem Buch. Es trägt den Titel „Courage“, und auch die Mission des „Ordens der Teelöffel“ beschreibt die Schauspielerin und Aktivistin ebendort. Sie war viele Jahre Vorstandsvorsitzende des Integrationshauses in Wien, 2020 gründete sie mit Gleichgesinnten die Initiative „Courage – Mut zur Menschlichkeit“.
Gerade dreht Katharina Stemberger die dritte Staffel „Soko Linz“; in Litschau im Waldviertel fungiert sie im August einmal mehr als künstlerische Co-Leiterin des Theaterfestivals „HIN & WEG“ (siehe Info).
Buch:
Wieso haben Sie sich die Zeit genommen, ein Buch zu schreiben?
Katharina Stemberger: Ich habe nie gedacht, dass ich das einmal tun werde. Der Molden Verlag ist an mich herangetreten; eine Biografie kam für mich nicht infrage, mich fasziniert aber schon lange der Begriff „Courage“ – auch der Unterschied zu Mut. Mutig kann man auch allein sein, ein Auto stehlen oder Bungeespringen. Aber Courage hat immer ein Gegenüber. Und viele Cousins und Cousinen: die Hoffnung, die Solidarität und das Gemeinsame, an das ich sehr glaube.
Die Trennung Ihrer Eltern, das Aufwachsen in einer Patchwork-Familie, Ihre Jugend – man bekommt private Einblicke, wie man sie von Ihnen nicht kennt …
Ein Teil von mir dachte, ich kann mich irgendwie durchschummeln (lacht). Aber mir wurde klar, dass ich zu diesem Thema etwas von mir hergeben muss, ohne dass es ein Seelenstriptease wird. Wo du auf die Welt kommst, ist Glückssache, und ich habe viel Glück gehabt. Ich wollte davon erzählen, wie mich meine Familie und die Menschen um mich herum geprägt haben.
Ich habe 2022 viel gearbeitet und viel über das Buch nachgedacht. Dann wurde mein Vater schwer krank und ist im November von uns gegangen. In der Nacht, wo es nicht klar war, ob er heute oder morgen stirbt, wo du nicht mehr weinen, lachen und nicht mehr reden kannst, habe ich mich hingesetzt und in meiner größten Not zu schreiben begonnen. Es war spannend: Es ist irgendwie eine Sprache aus mir herausgekommen.
Sie verweben sehr fein Ihre Familie in das Buch, auch Ihre Tochter, die zu dieser Zeit 21 war. Wie kam es dazu?
Es gab vor mir viele Menschen, die sich darum bemüht hatten, dass die Welt nicht ganz so grauslich ist, nach mir wird es auch viele geben. Das Buch hat für mich etwas mit einer Staffelübergabe zu tun. Ich hatte eine ganz wunderbare Lektorin, die mich fragte: Wie sieht das deine Tochter? Ich habe gesagt, das müssen wir sie selbst fragen. Ich habe Anna immer aus aller Öffentlichkeit herausgehalten, sie hat das auch nie gesucht. Für das Buch haben wir ein paar Kaffeerunden gemacht: Die Lektorin stellte uns Fragen, unsere Dialoge wurden zu Minidramen zusammengesetzt. Ich habe meiner Tochter gesagt: Es liegt vollkommen in deiner Hand, ob wir das verwenden. Sie hat mich gefragt: „Was möchtest du denn?“ Ich habe geantwortet: Das ist nicht wichtig, du bist mir wichtig. Aber ich habe mich irre gefreut, dass sie einverstanden war.
Sie haben Ihre Eltern mit fünf (!) überredet, zu einer Tante nach Kolumbien fliegen zu dürfen, die ganze Familie hat das Geld dafür zusammengelegt. Bewundernswert, dass Ihr Wunsch so ernst genommen wurde …
Ich muss unglaublich lästig gewesen sein (lacht). Das ist Fluch und Segen zugleich: Wenn ich mir etwas in den Kopf setze, kriege ich das nicht mehr so leicht heraus. Das Vertrauen, das meine Eltern in mich gesetzt haben, hat mir für das Leben einen sehr breiten Rücken gemacht.
Das Buch ist ein Appell, dass wir alle zu einer besseren Welt beitragen können. Wie können wir die Kids bestärken?
Indem man ihren Blick zu dem lenkt, was möglich ist. Die jungen Leute haben heute auf der einen Seite viele Möglichkeiten, auf der anderen sind sie mit vielen Katastrophen konfrontiert. Wir können ihnen Mut machen, damit sie die Selbstwirksamkeit kultivieren: Jede und jeder kann dazu beitragen, dass die Dinge mehr in die Richtung gehen, die für uns alle gut ist. Fragt euch: Wo ist der Ort, an dem ich wirken kann?
Ich höre immer wieder: „Für Sie ist es einfach, Sie sind ein mutiger Mensch.“ Ich sage: Nein, zuerst ist die Empathie. Der Mut ist etwas, der dir zuwächst, nachdem du etwas getan hast. Zuerst sehe ich etwas, das ich nicht gut finde, und muss etwas tun, weil ich es nicht aushalte. Wir müssen die jungen Menschen auf dumme Stehsätze aufmerksam machen, wie: „Man kann ja nicht alle retten“. Eh nicht, aber – und das findet man in jeder Religion – wenn du einen rettest, rettest du die Welt.
Wenn wir uns zusammentun, können wir Dinge im Großen und Kleinen verändern.
Katharina Stemberger
Was bedeutet für Sie Solidarität?
Mich in Zusammenhang mit anderen zu sehen und meine Handlungen nach Möglichkeit danach auszurichten, was für den Schwächsten am besten ist. Das gelingt nicht immer, das heißt auch nicht, dass wir ständig im Sesselkreis sitzen und uns die Hände halten. Solidarität ist die große Ausrichtung, die sicherstellt, dass niemand zurückbleibt, soweit das in meinen Möglichkeiten ist. Aus der Gnade der Geburt ergibt sich eine Verantwortung.
Was ist Ihre stärkste Triebfeder?
Das Mitfühlen. Und ich fürchte mich vor fremden Menschen nicht, deswegen kann ich den solidarischen Gedanken weiter fassen.
Was macht Ihnen Angst?
Wenn ich auf Hoffnungslosigkeit treffe oder auf vorsätzliche Bösartigkeit und Verlogenheit.
Warum lohnt es sich, für andere einzustehen?
Das ist Teil unseres Menschseins, weil wir soziale Wesen sind. Niemand von uns kann allein existieren. Uns allen hilft es, eine Handlung gegen einen Missstand zu setzen, weil es uns aus der Ohnmacht holt, aus dem Gefühl, dass man ausgeliefert ist.
Sie finden, dass der Begriff „Selbstverwirklichung“ heute auch einen negativen Beigeschmack hat. Warum?
Das Individuelle ist gut, aber wenn es nur mehr um Selbstoptimierung geht und sich Menschen von der Welt zurückziehen, um – das ist jetzt überspitzt formuliert – biedermeiermäßig ihr Gemüse zu ziehen, bemerken sie oft nicht, wie sie nur noch um sich selbst kreisen. Zu den wichtigsten Tugenden gehören für mich Gastfreundschaft und Großzügigkeit: Wenn ich viel habe, mache ich meinen Tisch länger.
Wie verarbeiten sie all die Katastrophen um uns herum?
Mir geht es oft fürchterlich, und ich verzweifle. Aber ich suche immer die Hoffnung und die Möglichkeiten. Dann spreche ich mit Freunden und weiß, dass ich nicht allein bin. Wir müssen uns zusammentun, dann können wir Dinge im Großen und Kleinen verändern.
Was macht Sie glücklich?
Menschen. Ich staune und beobachte, zu wie viel Schönheit und Gutem sie fähig sind; dorthin lenke ich meine Aufmerksamkeit. Wenn man nur in den schwarzen Schlund schaut, zieht er einen hinunter.
Daran will ich auch glauben.
Es hat niemand gesagt, dass dieses Leben einfach sein wird. Manchmal ist es schon eine Mammutaufgabe, einfach stehen zu bleiben in einer Situation und nicht wegzuschauen.
Sie sind künstlerische Co-Leiterin des Theaterfestivals „HIN & WEG“ in Litschau. Worauf richten Sie heuer den Fokus?
Das Festival ist eine große Freude, es wächst und wächst. Wir beschäftigen uns heuer mit dem Thema Dummheit in verschiedensten Formen und rücken Shakespeare in den Mittelpunkt. Er ist für mich einer, der die Dinge, die die Menschheit betreffen, unvergleichbar auf den Punkt bringen konnte. Warum ich mich dort so gerne einbringe, hat damit zu tun, dass ich mit Zeno Stanek und Ernst Molden zwei kongeniale Freunde und Partner habe, und dass dieses Festival so sehr auf Augenhöhe stattfindet; das ermöglicht schöne Begegnungen. Was mir außerdem wichtig ist: dass wir viel Platz für die Jungen schaffen.