Weihnachtsstress: Warum streiten wir an Weihnachten?
Besinnlich, friedlich, harmonisch – so soll Weihnachten sein. Doch für viele Frauen wird die Festzeit zur Zerreißprobe: Einsamkeit, Streit und Gewalt eskalieren gerade jetzt. Warum ist das so – und wo finden Betroffene Hilfe?
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Kerzen, Kekse, Familienidyll. Die Bilder von Weihnachten versprechen Wärme und Geborgenheit. Doch hinter vielen geschlossenen Türen sieht die Realität oft anders aus. Gerade in der Zeit zwischen den Feiertagen häufen sich durch den Weihnachtsstress Konflikte, eskaliert Gewalt, wird Einsamkeit unerträglich. „Weihnachten verstärkt oft das, was ohnehin schwelt“, sagt Ulrike Gärtner, Vorstand und Geschäftsführerin von vier innova Frauen- und Mädchenberatungsstellen von insgesamt 19 Standorten in der Steiermark. „Der Druck, jetzt harmonisch und glücklich sein zu müssen, macht alles noch schwerer.“
Wenn Nähe zur Belastung wird
Die Feiertage bringen etwas mit sich, das im Alltag oft fehlt: Nähe, vor allem eine, die nicht freiwillig passiert. Familien verbringen Tage auf engem Raum, Erwartungen prallen aufeinander, alte Konflikte brechen auf. „Plötzlich ist da keine Ausweichmöglichkeit mehr“, erklärt Gärtner. Für Frauen, die in Gewaltbeziehungen leben, wird diese Nähe zur Gefahr. Kontrolle, Demütigungen, körperliche Übergriffe – alles intensiviert sich, vor allem, wenn Alkohol mit im Spiel ist.
Gewalt unterm Christbaum
Ulrike Gärtner kennt die Dynamik der Feiertage aus ihrer Beratungsarbeit: „Weihnachten ist für viele Frauen die schwierigste Zeit im Jahr. Die Erwartung, jetzt eine perfekte Familie zu sein, erhöht den Druck massiv. Gerade wenn die ganze Familie zusammenkommt, müssen viele Frauen die heile Welt nach außen spielen – während sie innerlich längst am Limit sind.“ Oft seien es Beziehungsdynamiken, die über Jahrzehnte gewachsen sind, die sich an Weihnachten besonders zeigen. In den Beratungsgesprächen – allein in der Steiermark werden jährlich über 5.000 Frauen begleitet – werde deutlich, wie sehr gerade die Feiertage als Brennglas wirken.
Wenn der Weihnachtsstress zur Eskalation wird
Die Vorbereitung auf Weihnachten – Geschenke besorgen, Menüs planen, das Zuhause herrichten – fällt meist den Frauen zu. „Viele Frauen erkennen lange nicht, dass das, was sie erleben, Gewalt ist“, sagt Gärtner. „Sie denken, sie müssen nur noch mehr leisten, noch perfekter sein. Dabei ist es der Partner, der kontrolliert, abwertet, bestraft.“ An den Feiertagen, wenn Erschöpfung auf unerfüllte Erwartungen trifft, eskalieren Konflikte oft. „Die Gewohnheit sitzt dann schon so tief, dass eine Veränderung unvorstellbar scheint.“

Einsamkeit hinter der Fassade
Doch nicht nur Gewalt macht Weihnachten zur Belastung – auch Einsamkeit trifft Frauen in dieser Zeit oft besonders hart. „Es gibt Frauen, die sich gerade jetzt besonders allein fühlen. Besonderes Augenmerk gilt hier den alleinerziehenden und alleinstehenden Frauen, die unter der Armutsgefährdungsgrenze leben und denen ihre Nicht-Teilhabe an der Gesellschaft besonders spürbar wird“, sagt Gärtner. „Ob nach Trennungen, nach Verlusten oder weil familiäre Bindungen schon lange zerbrochen sind – der gesellschaftliche Druck, jetzt glücklich sein zu müssen, macht die Einsamkeit noch schmerzhafter.“ Für viele Frauen bedeutet Heiligabend: allein am Küchentisch sitzen, während rundherum das Fest der Liebe gefeiert wird.
Zwischen Scham und Existenzangst
Gärtner berichtet von Frauen, die sich gerade nach den Feiertagen melden – wenn der Druck zu groß geworden ist. „Für Frauen, die ihr Leben lang unbezahlte Care-Arbeit geleistet haben, ist eine Trennung oft mit Existenzängsten verbunden. Viele Frauen möchten sich aus einer Gewaltbeziehung lösen. Existenzielle Abhängigkeit, Scham und die Angst, die Kinder zu verlieren, hindern sie aber daran.“ Erst wenn der Leidensdruck für sie und die Kinder zu groß wird, wagen sie den Schritt ins Unbekannte – einen Neuanfang, der oft bedeutet, sich eine komplett neue Existenz aufbauen zu müssen. „Gerade an Weihnachten, wenn alle von Familie und Zusammenhalt sprechen, fühlt es sich für viele Frauen an, als würden sie versagen, wenn sie sich eingestehen, dass sie einer Illusion nachlaufen.“
Warnsignale ernst nehmen bei Weihnachtsstress
Damit Unterstützung dort ankommt, wo sie gebraucht wird, braucht es Aufmerksamkeit – auch im Umfeld. „Wenn eine Frau plötzlich nicht mehr zu Familienfeiern kommt, wenn sie sich zurückzieht oder immer öfter Ausreden findet – das können Warnsignale sein“, sagt Gärtner. „Auch an den Feiertagen gilt: Nachfragen kostet nichts, aber Schweigen kann Leben kosten.“ Die Beratungen in den steirischen Beratungsstellen sind kostenlos, vertraulich und auf Wunsch anonym – niederschwellige Angebote, die ohne große Hürden erreichbar sind. „Und gerade an Weihnachten, wenn viele Stellen geschlossen haben, ist es wichtig, zu wissen: Die Frauenhelpline ist rund um die Uhr erreichbar.“
Hilfe ist da – auch an Weihnachten
Gärtner appelliert: „Weihnachten ist kein Grund zu schweigen. Im Gegenteil: Wenn die Feiertage zur Belastung werden, wenn Gewalt eskaliert oder die Einsamkeit unerträglich wird – genau dann ist es Zeit, sich zu melden. Niemand muss aushalten, bis die Feiertage vorbei sind. Niemand muss allein durch den Heiligen Abend.“ Die Botschaft ist klar: Auch wenn rundherum gefeiert wird – Hilfe ist da, an jedem Tag des Jahres.