Schluss mit Tabus!

Plötzlich ein Knoten in der Brust, Operationen, Hormontherapien – und von heute auf morgen im Wechsel.

6 Min.

SINNLICHKEIT & SEX nach Erikas Brusterkrankung © David Lee Schlenker

Das Telefon klingelte, als Erika mit ihrem Volvo auf der Autobahn von Innsbruck nach Wien unterwegs war. Die Worte „Es ist Krebs“ ließen ihre Welt stillstehen – und sie raste in eine Baustelle. So beschreibt Erika Krafft ihre erste Begegnung mit der Krankheit, an der ihre geliebte Mutter drei Jahre später ver­storben ist. Julia Szörényi war wahrscheinlich – wie auch ihre Tochter Erika – Trägerin der Genmutation BRCA1.

Frau Krafft, auch Sie erhielten 2021 die Diagnose Brustkrebs. Wie sind Sie damit fertiggeworden?
Die Krebsdiagnose hatte eine Schockwirkung auf mich und erzeugte Angst. Ich glaube, da bin ich nicht alleine – jede ernsthafte Diagnose wirft uns aus dem Alltag. Gleichzeitig glaube ich, dass genau in diesem Verlassen des Hamsterrades die Heilung liegt.

Und dann haben Sie begonnen, ihre Geschichte aufzuschreiben. In der Psychologie gibt es dazu den „Healing Act of Writing“…
Für mich war es wichtig, mich mit den Themen auseinanderzusetzen und mit anderen Menschen das zu teilen, was ich in der Situation erlebte, welche Yogaübungen in welcher Phase mich unterstützten, welche komplementärmedizinischen Maßnahmen mir halfen … Durch das Verlassen der Opferrolle konnte ich die Situation viel leichter von außen betrachten, und das half mir enorm. So entstanden meine Bücher. Ja, das Schreiben war meine Heilung.

Ihnen wurde nicht nur beidseitig das Drüsengewebe der Brust entfernt und durch Implantate ersetzt, um die Produktion der Eierstöcke zu stoppen, wurden Sie auch „chemisch kastriert“, was bedeutet, dass die Östrogenproduktion mit Aromatasehemmern auf null gestellt wurde, wie auch Ihre Libido. Was bedeutete diese neue Körperlichkeit für Sie und Ihren Mann?
Im Krankheitsverlauf war das Thema für meinen Mann viel präsenter als für mich. Ich war mit viel wichtigeren, sozusagen lebenswichtigen Fragen beschäftigt. Mit der Zeit spürte ich jedoch ganz klar, dass er etwas vermisst. Obwohl er sehr achtsam und einfühlsam ist – er ist ein Mann! Das belastete wiederum mich, weil ich nicht in der Lage war, ihm das zu geben, was er sich im Inneren wünschte. Eine schwierige Situation, durch die Beziehungen zerbrechen können. Es half mir sehr, dass er mir Zeit ließ. Er drängte nicht, und ich begann, mich auf der onkologischen Rehabilitation mit dem Thema zu beschäftigen. Ich verstand, dass ich mich öffnen und als Frau neu definieren darf – erst dann können wir das Gemeinsame neu entdecken.

Narben erzählen ja nicht nur von Verwundungen, sondern auch davon, dass etwas wieder gut geworden ist …
Mein Körper trägt zahlreiche Narben – nicht nur die meiner Krebsoperationen. Ich lebe mein fünftes Leben, und ich bin unendlich dankbar, dass ich in Österreich wohne, wo unser Gesundheitssystem so wunderbar funktioniert. Ich wurde zu Covid-Zeiten innerhalb von sechs Wochen operiert – und das inklusive Genuntersuchung!

In einer nächsten Operation wurden Ihnen auch die Eierstöcke entfernt …
Das wurde mir dringend angeraten. Bei meiner Genmutation – die gleiche, die auch Angelina Jolie hat – hatte ich 85 Prozent Risiko auf Brustkrebs und 65 Prozent Risiko auf Eierstockkrebs. Eierstockkrebs ist noch gefährlicher als Brustkrebs, insofern, als da keine Früh­erkennung möglich ist, denn im Ultraschall ist das Krebsgewebe nicht von den Eierstöcken zu unterscheiden. Aus diesem Grund war es für mich klar und gar keine Frage: Die Eierstöcke müssen raus.

AUF DEM WEG Mit Yoga und Qi Gong zur Selbstkultivierung. © David Lee Schlenker

Warum sind die Themen Sinnlichkeit und Sex nach Krebserkrankungen noch immer mit einem Tabu behaftet und stehen damit auch der Heilung im Weg?
Ich glaube, da spielen einige Faktoren eine Rolle. Eine Krebserkrankung ist oft mit Schuld und Scham behaftet. Man spricht kaum darüber – zum Glück gibt es bereits einige Patientenorganisationen, die daran arbeiten, das Thema gesellschaftsfähig zu machen. Früher trat eine Brustkrebserkrankung eher bei älteren Frauen auf. Durch die Veränderung unserer Umwelt und unserer Lebensweise sind immer öfter auch jüngere Frauen betroffen. Bei den älteren Damen waren oftmals Sinnlichkeit und Sexualität kein aktuelles Thema mehr. Außerdem glaube ich, dass die Ärzte sich mit dem Thema auch schwertun und es daher nicht ansprechen.

Mit der fachlichen Expertise der Gynäkologin Dr. Szilvia Csányi-Grafelmann und der Sexualtherapeutin Mag. Corin­na Abseher haben Sie das Buch „Die kraffftvolle Sinnlichkeit“ geschrieben. Welche Hilfe bieten Sie damit Betroffenen an?
Ich habe das Buch – genauso wie das erste Buch – chronologisch aufgebaut. Zuerst beschreibe ich kurz die Funktionsweise des gesunden weiblichen Körpers und gehe auf die Zeit der Menopause ein. Da einige Maßnahmen der Krebstherapie (Chemo- und Antihormontherapie) die Menopause einleiten, ist es wichtig zu wissen, was diese Periode – auch bei gesunden Frauen – mit sich bringen kann und wie sich der Körper verändert. Der zweite Teil widmet sich der Therapie selbst: Wie wirken die einzelnen Behandlungen auf die „Zutaten“? Wie verändert sich die Sinnlichkeit in dieser Zeit? Was kann hier empfohlen werden? Der dritte Teil gibt Tipps und Tricks nach der aktiven Therapiephase und zeigt Wege auf, wie frau ihre Sinnlichkeit – falls erforderlich – neu definieren und dabei viel Freude empfinden kann.

Wie können Begehren und Verlangen wieder gestärkt werden?
Bei gravierenden Veränderungen des Körpers ist es wichtig, die Definition der Sinnlichkeit und der Weiblichkeit neu zu überdenken. Wir dürfen verstehen, dass die Brust zwar nach außen hin womöglich ein Zeichen der Weiblichkeit vermittelt, doch hat Weiblichkeit und Frausein selbst nichts mit der Brust zu tun. Es ist von uns als Frau eine bewusste Entscheidung, ob wir unsere Sexualität und Sinnlichkeit leben möchten. Der erste Schritt ist daher eine klare Entscheidung dafür oder im Moment dagegen – und beide Entscheidungen sind vollkommen in Ordnung. Die Sinnlichkeit wieder oder neu zu entdecken, ist mit Bemühen, geradezu mit Arbeit verbunden. Es ist ein Sich-Trauen, ein Sich-Öffnen, ein Sich-Bejahen, und das erfordert Mut … wie immer, wenn wir mit etwas Neuem konfrontiert werden. Der erste Schritt, den wir als Frau für unsere Sinnlichkeit gehen können, ist das Stärken des eigenen Wertes als Frau, gefolgt von der Wiederentdeckung der eigenen Lust und Erotik.

Und wie setzt frau das in der Praxis um?
Ich darf mir als Allererstes erlauben, mich wieder zu spüren. Sicherheit und Zeit sind auch wichtige Faktoren, genauso wie die Entdeckung der richtigen Stimulation. Erst wenn ich weiß, wie mein Körper funktioniert, kann es mit der Neuentdeckung der gemeinsamen Sinnlichkeit weitergehen. Für mich hat Sinnlichkeit etwas mit Teilen und Geben zu tun. Ich teile meine Berührungen, meine Zärtlichkeiten. Ich gebe alles: stundenlanges Streicheln, Berühren mit Innigkeit und Freude. Sinnlichkeit ist ein freies Geben, ohne Erwartungen. Ich gebe, weil ich geben möchte. Die Liebe, die nichts erwartet und alles gibt, ist die wahre, tiefe Quelle der Sinnlichkeit. Und diese Quelle bleibt uns für immer erhalten – sie sprudelt lediglich mit den Jahren voller und reicher.

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