Mit den Ohren die Augen öffnen

Julia Lacherstorfer und ihre "Nachbarin".

5 Min.

© Julia Geiter

Julia Lacherstorfer ist Intendantin des wellenklænge-
Festivals in Lunz am See. Im Interview verrät sie, in welche Welten sie für das Album „Nachbarin“ tauchte.

Man drückt auf Play, nimmt das Booklet zur Hand, und der Vorhang geht auf. Man sieht im Heftchen die Bilder von Frauen, liest ihre Geschichten, und Julia Lacherstorfer erweckt sie nacheinander, mit jedem einzelnen Musikstück zum Leben. „Nachbarin. a diverse narrative“ ist der Titel des neuen Albums der Violinistin, Sängerin, Komponistin und Performerin. Und es wirkt wie ein Hörspiel, wie ein ganzes Theaterstück, das ebendort über die Bühne geht, wo die Platte gehört wird. Die 14 Nummern ziehen so intensiv die Aufmerksamkeit auf sich, dass man jede Nebentätigkeit bleiben lassen muss. Will! Das liegt an der Musik, an den gesungenen Liedern und den Texten; jedes einzelne Werk erzählt aus realen Leben, die Künstlerin führte dazu Interviews.

Zwei der Protagonistinnen – die Philosophin und Antirassismus-Autorin Amani Abuzahra und die Sängerin Sakina Teyna – lud sie auch zum heurigen wellenklænge-Festival nach Lunz am See ein. „Letztes Jahr lautete unser Titel ,Mut & Gerechtigkeit‘, daran schließen wir heuer mit ,Wut & Wandel‘ an. Wut ist ein negativ konnotiertes Gefühl, dabei beinhaltet es auch den Aspekt, dass sie uns ins Handeln bringt, dass wir Ungerechtigkeit spüren und Impulse setzen, damit Veränderung passieren kann“, beschreibt Julia Lacherstorfer, die gemeinsam mit ihrem Ehepartner und Musiker Simon Zöchbauer das Festival programmiert. Wichtiger Hinweis: Es beginnt zwar erst Mitte Juli, aber bereits jetzt sind einzelne Veranstaltungen ausverkauft. Julia Lacherstorfer selbst tritt demnächst beim Storytelling Festival in Bad Schönau auf (Hier geht’s zum Artikel).

Was hast du mit dem Album „Nachbarin“ fortgesetzt, was du zuvor mit „Spinnerin“ begonnen hast?
Julia Lacherstorfer: Das Öffnen eines Raumes für Erzählungen und Lebensrealitäten, die oft ein bisschen zu kurz kommen. Was sich dabei verändert hat: Bei „Spinnerin“ war mein Blick auf die Vergangenheit gerichtet, jetzt auf die Gegenwart – auf die Gesellschaft rund um mich.

Wer sind die Nachbarinnen?
Einerseits Menschen, mit denen ich gerade mein Leben teile, auch wirklich örtliche Nachbarinnen, und andererseits musikalische Kolleginnen und kunstschaffende Personen, die ich sehr schätze. „Nachbarin“ ist für mich ein Begriff für Menschen, mit denen ich mir die irdische Existenz teile.

Du schreibst, du wolltest mit diesem Projekt bewusst lernen und dich öffnen. Was hast du gelernt?
Sehr wichtig ist für mich das Buch „War das jetzt rassistisch?“ (Black Voices/leykam Verlag). Niemand von uns ist ausgenommen davon, rassistische Denkweisen internalisiert zu haben; das heißt nicht automatisch, dass man rassistisch ist. Um das überhaupt zu sehen, erfordert es die Fähigkeit, sich kritisch zu hinterfragen. Meine Motivation für dieses Projekt war: zuhören. Die Leute machen sich viel Mühe in ihrer Aufklärungsarbeit, wir als weiße Mehrheitsgesellschaft sind oft ignorant dem gegenüber. Wir haben nichts zu diesen Privilegien beigetragen. Wenn wir schon so viel Glück haben, ist es unsere Verpflichtung, uns für die zu engagieren, die weniger Glück hatten. Ich bin dankbar für solche Bücher, die uns helfen, unsere stereotypen Bilder zu hinterfragen. Ich lasse die Menschen auf meinem Album sprechen. Sie haben selber eine Stimme, marginalisierte Gruppen kriegen nur oft nicht so viel Publikum.

Wobei sind wir ignorant?
Wenn weiße Menschen auf rassistische Verhaltensweisen hingewiesen werden, schlägt das oft in ein defensives Verhalten um; dann hört man Dinge wie „man darf ja nichts mehr sagen“ oder „ich meine das ja nicht so“. Wir sollten unser Ego zurückstellen und zuhören, was People of Color uns erzählen, was sie sich jeden Tag anhören müssen. Es ist nicht einmal so, dass das immer böse gemeint ist. Aber wenn die Menschen sich schon die Mühe machen zu sagen, was sie verletzt, und uns bitten, sie nicht immer zu fragen, woher sie kommen, könnte man einfach antworten: „Okay, danke für den Hinweis, ich werde das berücksichtigen.“ Und nicht: „Es interessiert mich halt.“ Ich stelle mich bei all dem auch nicht darüber und nehme mich nicht aus, aber ich habe den Anspruch, mich weiterzuentwickeln.

Wie ist die Musik für das Album entstanden?
Ich kann gar nicht etwas Allgemeines dazu sagen, weil jedem Stück eine andere Inspirationsquelle, eine andere Initialzündung voranging. Nachdem ich alle Musikstücke und geschnittenen Interviews hatte, bin ich noch einmal sehr lange an der Tracklist gesessen. Dass ein Album insgesamt einen Bogen, eine Dramaturgie hat, ist mir sehr wichtig. Es hat mich auch wieder meine Produzentin Caitlin Smith dabei unterstützt, Brücken zwischen den Musikstücken mit Interviewpassagen zu bauen. Es war sehr früh klar, dass ich mit den beiden Nummern, wo es um Atmen geht, beginnen bzw. enden will.

Wieso rückst du wieder ausschließlich Frauen in den Mittelpunkt?
Die männliche Perspektive gibt es nicht zu wenig. Das ist wie beim Patriar­chat: In Führungspositionen und der Politik sitzen in erster Linie Männer. Es geht darum, da mehr Diversität reinzubringen. Wenn die Atmosphäre in diesen Bereichen menschlicher und sozialer wäre, würden mehr Frauen diese Jobs machen, und es würden sich viele Strukturen ändern. Wir brauchen eine viel größere Durchmischung auf den Ebenen, wo Entscheidungen getroffen werden. Mein Album ist mein Mittel, das zum Ausdruck zu bringen, was mich beschäftigt, was ich ungerecht finde und was mich wütend macht.

Lange war Frauen der Weg verwehrt, was bedeutet es für dich, Komponistin zu sein?
Dass mir heute Komponieren als Mittel zur Verfügung steht, ist ein Privileg. Ich schätze es, dass wir heute studieren können, was wir wollen und dass man sich bei Kompositionsaufträgen bemüht, dass es auch um Frauen geht. Aber es war Jahrhunderte hindurch anders, das wirkt lange nach. Kann es überhaupt so weit kommen, dass jemals eine Komponistin gleich angesehen wird wie ein Mozart oder ein Beethoven?

Schön aufwühlend. Julia Lacherstorfers neues Album: „Nachbarin. a diverse narrative“

Julia Lacherstorfer…

… wuchs in Oberösterreich auf und lebt und arbeitet heute in Wien. Sie ist sowohl als Solokünstlerin unterwegs wie auch als Violinistin, Sängerin, Komponistin und Performerin in verschiedenen Projekten wie ALMA, SPINNERIN, Ramsch & Rosen aktiv.
www.julialacherstorfer.at
wellenklaenge.at

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