Das Bestehende wertschätzen
Singen, tanzen, musizieren, alte Handwerkstechniken und Traditionen pflegen, Bräuche im Jahreskreis feiern und sie in eine neue Zeit führen – für all das steht die Volkskultur Niederösterreich. Wir baten die Geschäftsführerin Manuela Göll zum Gespräch.
© Gerald Lechner
Frau Göll, vor einem Jahr haben Sie von Dorli Draxler die Geschäftsführung der Volkskultur Niederösterreich übernommen. Zeit für ein erstes Resümee?
Manuela Göll: Gern, und das Resümee könnte nicht positiver ausfallen. Ich habe im vergangenen Jahr in alle Bereiche hineingeschnuppert und bin heute überzeugter denn je: Volkskultur ist lebendig, frisch, offen, vielseitig und freudvoll. Wunderbare Menschen engagieren sich fürs Musizieren, Singen, Tanzen, Handwerken und für Bräuche. Gemeinsam mit meinem tollen, professionellen Team bieten wir Service und Unterstützung, Weiterbildung und Möglichkeiten für Auftritte. Sich kulturell und kreativ in Gemeinschaft mit anderen zu betätigen ist ein zutiefst menschliches Bedürfnis. Dabei ist es wichtig, Tradition und Althergebrachtes zu würdigen und gleichzeitig Neues aufzugreifen und Innovation zuzulassen.
Nach Ihrem Studium an der Universität für Bodenkultur in Wien haben Sie das Konservatorium für Kirchenmusik der Diözese St. Pölten absolviert, sind seit Jahren als Chorleiterin im Kirchenchor Zwettl tätig und auch als Sängerin aktiv. Ist es für Sie die Musik, die das besondere Heimatgefühl zum Klingen bringt?
Musik löst viele, um nicht zu sagen alle, Emotionen in mir aus. Sie kann ein Glücksgefühl verstärken, sie spendet Trost in traurigen Momenten, manchmal sorgt sie auch nur für gute Laune, wenn die Hausarbeit gemacht werden muss. Und ja, Musik verbinde ich auch ganz intensiv mit Erinnerungen, sei es an die Kindheit und ihre Orte, an bestimmte Situationen oder Personen. Beim Lieblingslied meiner Oma, beim Frühschoppen mit Blasmusik oder einem zünftigen „Boarischen“ kommen sofort Bilder in meinen Kopf. Dieses Gefühl kennen wir wahrscheinlich alle – jeder mit seiner Lieblingsmusik, die die persönlichen Saiten zum Klingen bringt.
Das seit 1993 beliebte viertägige Festival aufhOHRchen in Hollabrunn stand heuer erstmals unter Ihrer Leitung. Wie war’s?
Heiß (lacht)! Und aufregend! Ich kannte aufhOHRchen schon als Besucherin von früheren Festivals, aber heuer war ich das erste Mal als Leiterin alle vier Tage von Beginn bis spät in die Nacht dabei. Jeder, der schon einmal auf einem mehrtägigen Festival war, weiß, dass man die Welt um sich herum völlig vergisst. Ich war vier Tage lang von wunderbarer, vielfältiger Musik und Tausenden netten Menschen umgeben – vom Aufstehen bis zum Schlafengehen. Man kommt in dieser Intensität in einen Festival-Flow. Für mich war es Volkskultur pur, einmalige Begegnungen, spannende musikalische Momente, wenn Musizierende von verschiedenen Ensembles spontan gemeinsam spielen. Oder das Bezirksjugendsingen und Chöretreffen: Hunderte junge und junggebliebene Sängerinnen und Sänger stimmten gemeinsam ein Lied an, und der ganze Hauptplatz singt. Und ein weiterer, netter und überaus wichtiger Nebeneffekt des Festivals: Hier vernetzen sich Menschen in der Region nachhaltig, es entstehen neue Ideen, Projekte und Freundschaften – auch für mein Team und mich.
Sie sind in einer großen Familie in Weitra aufgewachsen und stolze sechsfache Tante. Was möchten Sie der nächsten Generation mitgeben?
Kurz zusammengefasst: Dass man das Schöne aus der Vergangenheit in die Gegenwart mitnehmen darf und für die Zukunft so anpasst, dass es Freude macht. Das klingt vielleicht kompliziert, darum bringe ich ein Beispiel: Meine Großmutter war Bäuerin und lebte ganz selbstverständlich mit den Traditionen im Jahreskreis. Nach dem anstrengenden Heuen an einem heißen Sommertag nahm sie sich immer Zeit, am Abend auf dem Hausbankerl zu sitzen und über den Tag und die Natur zu philosophieren. Auch das ist für mich gelebte Volkskultur. Sich Zeit nehmen, miteinander plaudern, das Bestehende wertschätzen und für Neues offen sein. Ich freue mich sehr, dass diesen Wert der gemeinsamen Zeit auch meine Nichten und Neffen genießen. Wichtig ist mir, pure Freude an Traditionellem weiterzugeben, ohne starre Regeln und Vorschriften. Dann kann die nächste Generation Tradition für sich neu formen und sich dafür begeistern. Frei nach dem Sprichwort: Tradition ist nicht die Anbetung der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers.
Die Volkskultur steht für Vielfalt und setzt auch internationale Schwerpunkte. Ein aktuell wichtiges Zeichen ist, das Gemeinsame über das Trennende zu stellen …
Ja, und noch viel mehr als das. Ich komme noch einmal auf meine Oma zurück. Sie war eine traditionelle Frau und gleichzeitig großmütig und offen. Von ihr habe ich den Spruch: Jeder darf nach seiner Façon glücklich werden. Wahrscheinlich hat sie vor 40 Jahren schon die Zeichen der Zeit erkannt, dass jeder Mensch frei sein muss, sein Leben individuell zu gestalten. Mit unserem Veranstaltungsprogramm möchten wir einladen, über den Tellerrand zu blicken, Neues auszuprobieren, sich von anderen Regionen und Menschen inspirieren zu lassen. Und wenn man sich darauf einlässt, kommt man ganz oft darauf, dass gemeinsames Musizieren, Tanzen, Singen, Handwerken über alle Länder, Sprachen, Geschlechter, Berufe und über jedes Alter hinweg verbinden.
Sie leben in Krems, haben Sie ein Wachauer Dirndl?
Nein, weder zu einem Wachauer Dirndl noch zu einer Goldhaube habe ich es geschafft! Aber das würde wahrscheinlich eh unter kulturelle Aneignung fallen (lacht). Ich habe natürlich eine traditionelle Tracht aus dem Waldviertel, genauer gesagt ein Gmünder Dirndl. Das war mein erstes – selbst genäht von meiner Mutter –, und es sind noch einige dazugekommen. Das Ausseer Dirndl gehört sicher zu den traditionsreichsten in meinem Kasten. Ich trage aber auch gerne Dirndlkleider und kombiniere sie nach Lust und Laune, mal mit klassischen Pumps und Tuch, mal mit bunten Sneakern und einer Jeansjacke. Durch das gesellschaftliche Umfeld haben sich Tracht und Dirndl immer schon verändert. Trägerin und Träger müssen sich selbst gefallen und sich einfach wohl fühlen – ohne Vorschriften und „Trachtenpolizei“. So bleibt Tracht freudvoll und lebendig und wird getragen. Und das ist ja der ursprünglichste Sinn des Wortes „Tracht“: das Tragen.