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Ob als Podcast, Netflix-Serie oder Dokumentation: Geschichten über reale Verbrechen ziehen immer mehr Menschen in den Bann. Über die Faszination True Crime und die Neugier auf die dunklen Abgründe der menschlichen Seele.
Abgrundtief
Während der Sellerie knirschend von mir zerteilt wird und die Paprika in bunte Streifen fällt, ertönt eine eindringliche Stimme aus den Boxen der Lautsprecher neben mir. Mit ruhigen Worten schildert die Erzählerin des Podcasts ein längst vergangenes Verbrechen – unfassbar, grausam und ohne Sinn. Doch statt mich abzuwenden, lausche ich ihrer Geschichte gebannt, während ich mit dem Küchenmesser die nächste Paprika klein schneide. „Das Messer wurde nie gefunden – es galt als die Tatwaffe“, enthüllt die Sprecherin nun die entscheidenden Details des grausigen Falls. Die Vorstellung, dass das alltägliche Werkzeug in meiner Hand in einer anderen Realität zu einem tödlichen Instrument geworden sein könnte, lässt mich kurz erschaudern.
Kaltblütig
Nicht nur ich bin Fan des True-Crime-Genres, Geschichten über wahre Verbrechen ziehen immer mehr Menschen in den Bann. Egal, ob als Podcast während des Kochens oder als flimmernde Serie am Bildschirm – die Vorstellung des Schreckens, der uns normalerweise das Blut in den Adern gefrieren lassen sollte, zieht uns wie magisch an. Doch warum ist es so verlockend, das Grauen aus der Distanz zu betrachten? Und was fasziniert uns eigentlich so an True Crime, dass wir uns während des Alltags oder sogar zum Einschlafen mit blutrünstigen Verbrechen beschäftigen?
Lust an der Angst
Die Faszination rund um wahre Verbrechen ist keinesfalls ein neues Phänomen, berichtet uns die Grazer Forscherin und True-Crime-Expertin Corinna Perchtold-Stefan. Schon seit Mitte des 20. Jahrhunderts unterhalten diese Formate Menschen auf der ganzen Welt: „Menschen haben sich schon immer für Verbrechen interessiert. Der Zugang zu gruseligen Geschichten aus dem echten Leben ist im digitalen Zeitalter nur deutlich einfacher geworden, und wir können diese Zahlen durch Medienstatistiken auch viel besser erfassen.“
Im deutschsprachigen Raum war beispielsweise „Aktenzeichen XY ungelöst“ einer der Vorreiter in dem Genre. Als dann 2014 die Podcastserie „Serial“ herauskam sowie ein Jahr später die Netflix-Serie „Making A Murder“, war der Online-Hype um True Crime nicht mehr aufzuhalten.
True Crime-Faszination im Alltag
Vor allem im Bereich der Podcasts hat True Crime eine riesige Fangemeinde. Überraschenderweise sind darunter deutlich mehr Frauen als Männer. Laut der deutschen True-Crime-Studie von Seven.One Audio aus dem Jahr 2022 sind ganze 93 Prozent der Hörerschaft weiblich.
Am liebsten hören diese ihren Verbrechenspodcast übrigens – genauso wie ich selbst auch – während der Hausarbeit (69 Prozent), unterwegs in Bus und Bahn (54 Prozent) oder beim Essen (37 Prozent). „Wenn man darüber nachdenkt, wirkt es vielleicht absurd, dass wir Menschen uns im Alltag gerne gruseln, also durchaus Spaß an der Angst haben. Das ist aber nur der Fall, wenn wir genau wissen, dass für uns keine echte Gefahr droht“, erklärt die Psychologin.
Gefühl der Sicherheit
Eine populäre Theorie zur Faszination rund um wahre Verbrechen ist, dass Menschen True Crime aus Sensationslust konsumieren – um sich einen „Kick“ aus dem Leid anderer zu holen. Perchtold-Stefan sieht das jedoch differenzierter: „In unserer Studie an der Universität Graz fanden wir heraus, dass das Hauptmotiv für den True-Crime-Konsum ‚Authentizität‘ ist. Es geht um das Bedürfnis, wahre Geschichten aus dem echten Leben zu verstehen.“
Das menschliche Gehirn strebe danach, das Unbekannte und Unverständliche zu begreifen, um sich sicherer zu fühlen. True Crime helfe so also, sich mit dem „Bösen da draußen“ auseinanderzusetzen. „Durch die Auseinandersetzung mit Verbrechen versuchen wir, ein subjektives Gefühl von Kontrolle über die unsichere Welt zu erlangen“, so die Expertin.
Durch die Auseinandersetzung mit Verbrechen versuchen wir, ein subjektives Gefühl von Kontrolle über die unsichere Welt zu erlangen.
Corinna Perchtold-Stefan, Psychologin
Zwischen Furcht und Sicherheit
Dieses Streben nach Kontrolle könnte auch erklären, warum gerade Frauen besonders häufig True Crime konsumieren. „Die weiblichen Testpersonen berichten in unserer Studie ein stärkeres Motiv der defensiven Vigilanz“, erklärt uns Perchtold-Stefan. Frauen nutzen True Crime also offenbar, um sich besser auf reale Gefahren vorzubereiten und zu lernen, wie sie sich schützen können – was aber nicht unbedingt zu einem stärkeren Sicherheitsbefinden führt, so die Psychologin weiter.
Ganz im Gegensatz zu dem von Männern, die sich durch den Konsum durch True Crime weniger sicher fühlen würden: „Grund dafür könnte sein, dass Frauen sich ihrer eigenen Verwundbarkeit prinzipiell bewusster sind als Männer und True-Crime-Konsum nicht viel daran ändert. Männer hingehen unterschätzen das eigene Viktimisierungsrisiko eher. Der Konsum könnte ihnen also bewusster machen, dass auch sie Opfer von Verbrechen werden können.“
True Crime als Mentales Fitnessstudio
Ein weiterer interessanter Aspekt, den Perchtold-Stefan in ihrer Forschung hervorhebt, ist das „mentale Fitnessstudio“, das der True-Crime-Konsum bieten könnte. „Indem wir uns in einem sicheren Umfeld mit schrecklichen Geschichten konfrontieren, können wir lernen, wie wir auf solche Szenarien reagieren und unsere negativen Emotionen regulieren“, erklärt sie im Gespräch.
„Das passt auch zu einer Studie aus den USA, die gezeigt hat, dass Fans von Zombie- und Pandemiefilmen deutlich weniger gestresst auf den Beginn der Covid-Pandemie reagiert haben. Wahrscheinlich weil sie diese Szenarien schon ganz oft im Kopf durchgespielt haben, und sie deshalb nicht völlig neu waren.“ Man trainiere also praktisch in einem sicheren Umfeld die Konfrontation mit negativen Dingen und schaffe sich so ein besseres Verständnis für die Gefahren der Welt. Dieses Training der Emotionsregulation könnte sogar die Resilienz steigern – eine These, die jedoch noch weiter erforscht werden müsse, so die Expertin weiter.
Perspektivenwechsel
So faszinierend True Crime auch sein mag, so sollten beim Konsum ethische und moralische Fragen nicht außer Acht gelassen werden – besonders in Bezug auf die Opfer und deren Familien, deren Geschichte so öffentlich erzählt wird und die dadurch vielleicht ein zweites Mal verletzt werden könnten. Perchtold-Stefan weist darauf hin, dass die Rechte der Opfer im True-Crime-Genre leider oft vernachlässigt werden.
„Tatsache ist, dass die Rechte von Opfern und deren Angehörigen in der modernen Unterhaltungsindustrie oft auf der Strecke bleiben und es hier gesetzlichen Nachholbedarf gibt“, erklärt sie. Dabei verweist die Expertin auf Plattformen wie der Weiße Ring, der hierzu wichtige Perspektiven aufzeigt, wie der Boom des Genres oftmals die Grenze zwischen Unterhaltung und Sensibilität überschreitet und Hilfe für Betroffene anbietet.
Glorifizierung von verbrecher:innen für Klicks
Serien wie „Dahmer“ oder „Monsters: Die Geschichte von Lyle und Erik Menendez“ stehen außerdem oft in der Kritik, Verbrecher:innen zu glorifizieren. Perchtold-Stefan sieht hier eine Gratwanderung: „Es gibt True-Crime-Beiträge, die detailreich die Geschichte erzählen, ohne die Täter:innen zu glorifizieren. Besonders auf Social Media werden diese jedoch oft für Klicks instrumentalisiert.“
Dennoch betont sie, dass die meisten True-Crime-Formate, insbesondere Podcasts, einen hohen Anspruch an Empathie und sachliche Berichterstattung haben. „In fast allen Podcasts, die ich höre, wird betont, dass es um das Verstehen der Tat und das Gedenken der Opfer geht, nicht um eine Verherrlichung der Täter:innen“, berichtet die Psychologin.
True Crime hilft uns, die Welt besser zu verstehen.
Corinna Perchtold-Stefan, Psychologin
Blick ins Unbekannte
Der Boom des True-Crime-Genres scheint also tief in unserer menschlichen Psyche verwurzelt zu sein. Perchtold-Stefan resümiert über ihr noch junges Forschungsfeld: „True Crime hilft uns, die Welt besser zu verstehen, auch wenn es manchmal um das Unvorstellbare geht. Es gibt uns zumindest das Gefühl, in einer unsicheren Welt besser vorbereitet zu sein – und das allein ist für viele Menschen schon von großem Wert.“
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Mehr zur Autorin dieses Beitrags:
Tjara-Marie Boine ist Redakteurin für die Ressorts Business, Leben und Kultur. Ihr Herz schlägt für Katzen, Kaffee und Kuchen. Sie ist ein echter Bücherwurm und die erste Ansprechpartnerin im Team, wenn es um Themen wie Feminismus und Gleichberechtigung geht.
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