Alle dürfen alles

„Mermaids Don’t Cry“ – wir schon. Weil Franziska Pflaums Spielfilmdebüt sehr nahegeht und gleichzeitig fantastisch komisch ist. Wir trafen ihre Supermarktkassiererinnen Stefanie Reinsperger und Julia Franz Richter, beide Niederösterreicherinnen, zum Interview.

8 Min.

© VanDeHart

Annika hat purpurlila Haare, ihren Badeanzug hat sie mit Perlen und Muscheln aufgehübscht. Die Flosse, die zuvor noch aus ihrem Rucksack baumelte, trägt sie nun an den Füßen; sie „wächst“ aus einem dünnen Jerseystoff. Und dann taucht Annika unter, in ihre Unterwasserwelt. Dort begegnet sie farbenprächtigen Fischen und wogenden Pflanzen; dieses Universum kann sie allein für sich entdecken und erobern. Die Freiheit endet dort, wo sie wieder auftaucht – und sich in einem Hallenbad wiederfindet. Annika ist dort oben, in der Realität, nicht frustriert, aber doch voller Sehnsucht und auf der Suche nach dem Glück. Bei der Trendsportart „Mermaiding“ glaubt sie, es finden zu können. Aber nicht mit der riesigen Flosse, sie träumt von einem kostspieligen Silikonteil mit glitzernden Schuppen. Eine zunächst unerreichbare Vision für die Supermarktkassiererin (Stefanie Reinsperger), deren Vater (Karl Fischer) sich gerade uneingeladen in ihrer Wohnung eingenistet hat und deren beste Freundin Karo (Julia Franz Richter) ständig die Kinder bei ihr ablädt.

Mit „Mermaids Don’t Cry“ kommt am 7. Juli Franziska Pflaums Spielfilmdebüt ins Kino. Der Film ist bunt, schrill, kraftvoll und gleichzeitig voller bewegender Momente; er ist quasi ein Holi-Fest fürs Auge und ein P!NK-Konzert fürs Herz.

Julia Franz Richter und Stefanie Reinsperger spielen darin beste Freundinnen – und auch privat haben die beiden zueinander einen spürbar feinen Draht. „Wir sollten mal ein Kabarett machen“, sagt Julia vor dem Interview. „Oder einen Spritzer-Podcast mit Julia und Steffi“, lacht Stefanie. 

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Welche Gedanken sind euch durch den Kopf gegangen, als ihr das erste Mal das Drehbuch von Christiane Kalss und Franziska Pflaum gelesen habt? 

Stefanie Reinsperger: Ich war zuerst so: Wie? „Meerjungfrauen weinen nicht“? Der Titel hat mich ein bisschen irritiert, aber meine Agentin meinte: Lies mal, es ist so lustig, sehr à point! So war es auch: Das Buch war sehr, sehr dicht und ganz toll geschrieben. Ich dachte mir: Coole Story – wann kann man schon eine Meerjungfrau spielen (lacht)?! Gab es das schon im österreichischen Kino?

Julia Franz Richter: Ich fand das Drehbuch auch sofort total super: witzig, aber auch so klug und differenziert. Ich hatte mir schon lange etwas Komisches gewünscht. Die Figur, die dann meine wurde, fand ich sofort anziehend: Sie ist gleichzeitig unsympathisch und sympathisch.

Wer sind eure Charaktere Annika und Karo?

Stefanie: Die beiden sind beste Freundinnen, und zwar immer schon. Für mich ist das das Zentrum im Film: ihre Freundschaft in all ihren Amplituden, Schwierigkeiten und Herausforderungen. Aber auch in dieser Selbstverständlichkeit und Liebe, die sie füreinander haben. Annika hat in ihrem Meerjungfrauentraum viel
Energie, da schraubt sie sich hinein; aber sonst ist sie jemand, die mit sich machen lässt, die das Leben passieren lässt.

Erst in ihrer Entwicklung lernt sie es, einzuschreiten. Das wird dann auch ein bisschen extrem, weil sie nicht so viel Erfahrung damit hat. Sie ist lange Zeit ohne Kalkül, sie lebt ihr Leben wie eine kleine Alge, die hin- und hergeschubst werden will. Auch von ihrer besten Freundin eigentlich. Aber was passiert, wenn sich so eine Person verselbstständigt? Ihre Freundschaft bekommt das erste Mal Risse. Dabei sind Karo und ihre Kinder für Annika das meiste, was sie an Familie kennt.

Julia: Meiner Karo könnte man was Opportunistisches vorwerfen, weil sie immer nach Wegen sucht, um am besten durchzukommen – mit dem Drang, etwas Besseres aus ihrem Leben machen zu wollen. Aber sie macht es nicht mit böser Absicht, sie handelt einfach extrem intuitiv und bemerkt die Konsequenzen ihres Handelns erst sehr viel später und oft erst, wenn sie darauf aufmerksam gemacht wird. Ihre beiden Kinder stammen aus unsteten Beziehungen, die sie zuvor hatte; Annika ist auch für sie die größte Sicherheit in ihrem Leben. Wenn auch Karo die Freundlichkeit von Annika und, dass sie nicht nein sagen kann, irgendwie ausnutzt, sind sie doch zwei Frauen, die sich gegenseitig unterstützen. Sie leben in einer Art Elternschaft mit den Kindern.

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Was meint ihr: Was sucht Annika in der Unterwasserwelt, die übrigens extrem genial gemacht ist?

Stefanie: Eine Art von Freiheit und Akzeptanz. Dann ist da noch der verklärte Traum: Wenn du dir etwas kaufst (teure Silikonflosse, Anm.), dann ist dein Leben perfekt. Das ist eine schöne Allegorie in dem Film. Unter Wasser gelten andere Regeln, aber irgendwann wird auch diese Welt brutaler und ist gar nicht mehr schön. Dein inneres Ich und deine Gelassenheit kannst du nur auf einer Reise zu dir finden; Annika ist aber zunächst lange damit beschäftigt, woanders zu suchen.

Habt ihr für euch auch solche Unterwasserwelten?

Julia: Annika ist eine Tagträumerin, aber das Wasser ist auch ein Geborgenheitsort, wo alles ganz ruhig ist. Mein Pendant heute – und als Kind habe ich das Wandern echt gehasst (lacht) – ist die Natur. Wenn ich in den Wald gehe, kann ich besser zur Ruhe kommen. Weg von dem System, in dem einem suggeriert wird, sich ständig selbst optimieren und alles schaffen zu müssen. Im Wald kann ich total gut durchatmen und wieder alles von außen betrachten.

Stefanie: Bei mir ist es auch ein bisschen das Meer, aber nicht schwimmend, sondern hörend. Ich habe es lange nicht gehört, weil ich viel gearbeitet habe. Aber vergangenen Dezember bin ich für eine Woche nach Warnemünde gefahren, jeden Tag am Meer entlanggegangen, und ich habe nur gehört. Das ist wie beim Wandern: Man kann sich als Mensch so gut in Verhältnis setzen: Du schaust auf das Meer hinaus, es ist unendlich und jeden Tag wird rein- und rausgespült. In unseren Jobs haben wir es viel mit Angst, Selbstzweifel und Zukunftssorgen zu tun; ich denke mir am Meer: Egal, was passiert, das Meer wird immer weiter rauschen (kurze Pause). Hoffentlich! 

Die Unterwasser-Szenen sehen auch sportlich spektakulär aus …

Stefanie: … und ich habe all meine Stunts selbst gemacht (lacht)! Ich hatte dafür tatsächlich ein Mermaiding-Training in Hildesheim, bei Mermaid Kat, einer ganz tollen Person. Ich wusste davor nicht, dass es so etwas gibt. Aber man muss dazu sagen: Die „Mermaids“ sind echte Profi-Taucherinnen. Die schwimmen ganz tief runter, ohne Geräte, mit offenen Augen, man braucht dazu mit den Flossen auch eine richtig gute Ganzkörperspannung; es wird manchmal belächelt, aber das ist eine Sportart. Allein schon das Einsteigen in die Flosse … – wow, eine aufwendige, bittere Erfahrung (lacht)! 

Das Schwierigste war für mich aber, die Augen unter Wasser offen zu lassen; mit der Tiefe hatte ich kein Problem. Schließlich habe ich es mit einer ganz tollen Trainerin, die Engelsgeduld hatte, geschafft. Ich war so happy, dass ich meine Angst überwinden konnte.

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Die Vielschichtigkeit der Charaktere, alle dürfen alles, alle haben gute und böse Anteile, egal, welches Geschlecht – wie habt ihr das erlebt?

Julia: Ich finde es bei dem Film total schön, dass es nicht darum geht, „starke Frauen“ zu zeigen, sondern Menschen in ihren Ambivalenzen und Nöten. Der Film spielt im Gemeindebau, es gibt aber nicht diesen sozialvoyeuristischen Blick. Es geht um Figuren, die mit ihrem Humor in ihren Kämpfen und Stärken gezeigt werden, die zum Teil auch darin liegen, dass sie Schwächen haben – wie alle Menschen.

Stefanie: Gerade bei weiblichen Figuren im Film gibt es leider oft die Bemühung, dass sie ganz top und nicht unsympathisch sein sollen; sie dürfen keine Fehler haben. In diesem Buch ist es anders: Jeder und jede greift daneben, jeder und jede macht Fehler, egal, wie alt man ist, welchem Geschlecht man sich zugehörig fühlt oder nicht. Es geht um die Menschen und um die Situationen, die wir alle in diesem sehr herausfordernden Leben haben. Deshalb finde ich das so toll, dass alle alles dürfen. Davon darf es gerne noch sehr viel mehr geben!

KINO START:

© Filmladen Filmverleih

2 x Vielseitig

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Stefanie Reinsperger wurde in Baden bei Wien geboren und machte ihr Schauspiel-Diplom am Max Reinhardt Seminar. 2017 und 2018 spielte sie die Buhlschaft bei den Salzburger Festspielen; Theater-Engagements hatte sie zuletzt auch an der Volksoper, im Berliner Ensemble und am Volkstheater. Seit 2021 verkörpert sie Hauptkommissarin Rosa Herzog beim Dortmunder Tatort; sehr genial war sie unter anderem in „Braunschlag“ und später in Catalina Molinas Salzburger Landkrimis. 2022 veröffentlichte sie ihr Buch „Ganz schön wütend“ (Molden Verlag).

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Julia Franz Richter wurde in Wiener Neustadt geboren und studierte Schauspiel an der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz, wo sie mehrfach am Schauspielhaus gastierte und später auch Ensemblemitglied wurde. Filmempfehlungen: „L’Animale“ (R: Katharina Mückstein), „Der Taucher“ (R: Günter Schwaiger) und „Rubikon“ (R: Leni Lauritsch). Seit 2020 ist sie Ensemblemitglied am Volkstheater, 2023 veröffentlicht sie mit Clemens Wenger und Felix Hafner die Debüt-EP „Wuman on a Sofa“. Große Stimme, viel Tiefgang.

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