„Gina“: Ulrike Kofler, Gerti Drassl und Marie-Luise Stockinger im Interview
Liebe und Familie haben viele Gesichter
© VanDeHart Photography
Die telefonierende Mama in der Schlange, deren Kinder sich aufführen – wie denken wir über sie? Wir sollten nicht darauf, sondern aufeinander schauen, finden die Filmemacherin Ulrike Kofler und die Schauspielerinnen Gerti Drassl und Marie-Luise Stockinger. Die drei Frauen im Talk zum Kinostart von „Gina“.
Die frischen Knödel wärmen den Bauch, die Jungs kraxeln auf einen Baum, Mama plaudert mit Vincent – und die Haare fliegen so schön beim Schaukeln. Familie kann so schön sein. Diese Momente lassen zwischendurch vergessen, wenn sich beim Schulausflug die Tannennadeln zwischen die Zehen bohren, weil Gina mit Sandalen kommt. Oder wenn sie Mama morgens nicht wachkriegt, der Kühlschrank leer und Oma zu beschäftigt ist, um Zeit mit ihrer Enkelin zu verbringen.
Der Film geht so nahe, dass man hineinspringen und der Neunjährigen, ihren Geschwistern und ihrer Mama zu Hilfe eilen will. Um sich im nächsten Moment zu fragen: Was wissen wir schon, was das Beste für eine andere Familie ist? Und „Gina“ bringt intensiv zum Nachdenken darüber, was wir einander sagen und nicht sagen, wie oft wir zu schnell urteilen und Dinge stehen lassen, obwohl das Hinschauen und Nachfragen vieles besser machen könnte.
Ulrike Kofler zeichnete für eine Reihe von preisgekrönten Filmen als Editorin verantwortlich („Corsage“, „Der Boden unter den Füßen“). Nach ihrem Regie-Langspielfilmdebüt „Was wir wollten“ (österreichische Oscar Einreichung für den besten internationalen Film, 2021) realisierte sie nun mit einem feinfühligen Team „Gina“.
Sie erzählt die Geschichte von einem Mädchen – bewegend echt dargestellt von Emma Lotta Simmer –, das selbst versucht, ihre Familie „geradezubiegen“. Zum Kinostart trafen wir die Filmemacherin gemeinsam mit Marie-Luise Stockinger, die Ginas Mama Gitte spielt, und Gerti Drassl, die die farbenfrohe Oma Branca verkörpert.
Ulrike Kofler, Gerti Drassl und Marie-Luise Stockinger über „Gina“
Du rückst erneut ein Familienthema in den Mittelpunkt. Was hat dich dazu bewegt?
Ulrike Kofler: Mich interessieren verschiedene Formen von Familie und Zugehörigkeit, sicher auch deshalb, weil ich selbst Mutter von einem Pflegekind bin. Bevor wir ein Kind in unsere Familie aufnahmen, haben wir eine Zeit lang verpflichtende Kurse der MA11 (Stadt Wien, Kinder- und Jugendhilfe, Anm.) besucht. Man wird sehr gut darauf vorbereitet, was es bedeutet, ein Kind in die Familie zu nehmen, das andere Eltern, andere Wurzeln hat. Dabei wurden wir mit Geschichten von Kindern konfrontiert, die man in Österreich nicht vermuten würde, und ich dachte mir: Darüber muss ich einen Film machen.
… weil dich die Geschichten so berührt haben?
Ulrike: Ja. Da gibt es Vierjährige, die ihre kleinen Geschwister wickeln, weil es sonst niemand macht. Ich habe das Jugendamt gebeten, mir – selbstverständlich anonym – weitere Geschichten zu erzählen. Unsere eigene sollte im Film natürlich nicht vorkommen.
Darf ich dich dennoch ganz persönlich fragen, warum ihr ein Pflegekind zu euch genommen habt?
Ulrike: Wir hatten schon einen Sohn, uns aber noch ein Kind gewünscht, das hat nicht mehr funktioniert. Wir haben uns schließlich damit arrangiert, als ich die damals beste Schulfreundin meines Sohnes, ein Pflegekind, und ihre Mutter kennengelernt habe. Das hat dazu beigetragen, dass wir uns auch entschieden haben, ein Pflegekind zu uns zu nehmen.
Zum Film: Gina ist das älteste Kind der dreifachen, schwangeren Mutter Gitte. Wie hat sie zu dir gefunden?
Marie-Luise Stockinger: Ich hatte ein Vorsprechen für die Rolle, ab dem Moment ließ mich Gitte nicht mehr los. Sie ist eine so schützenswerte Figur, die damit aufwuchs, dass ihr Befinden nicht wichtig ist und niemanden interessiert. Ich fände es ganz toll, wenn der Film den Blick erweitert, damit man Menschen, die man an der Supermarktkassa beobachtet, nicht mit seinem Urteil niederbügelt. Der Film zeigt die Liebe zwischen der Mutter und ihren Kindern urteilsfrei und auch ihr Bemühen um sie mit eben den Mitteln, die sie zur Verfügung hat.
Ich bin dankbar für meinen Beruf, weil ich dabei immer etwas übers Menschsein lerne.
Marie-Luise Stockinger
Branca ist eine schrille Oma – so hat man Gerti Drassl noch nie gesehen.
Gerti Drassl: Ja, das ist neu, diese Rolle war ein Geschenk – und ich habe die Outfits von Monika (Buttinger, Kostümbildnerin, Anm.) geliebt (lacht)! Ich hatte mich sehr schnell in das Drehbuch verliebt, weil mir der achtvolle Umgang mit den Figuren extrem gut gefallen hat. Das gilt für die gesamte Auseinandersetzung mit dem Thema: Warum schauen wir als Gemeinschaft auf die Leute drauf, anstatt uns ihre Geschichten mit ihnen gemeinsam anzuschauen?!
Wie habt ihr die Dreharbeiten erlebt?
Marie-Luise: Es war sehr cool, dass wir ein Drehhaus hatten …
Gerti: … mit einer großartigen Ausstattung. Wir hatten nicht das Gefühl, an einem Filmset zu sein.
Marie Luise: Der Film hat etwas Dokumentarisches, als ob uns die Kamera dabei zuschaut, wie wir da leben. Ich wurde mit den Kindern wie ein kleines Rudel und auch die Kinder hatten ihre Dynamik untereinander. Dafür gibt es sonst bei einem Dreh oft nicht genug Zeit oder Raum, aber du (zu Ulrike Kofler, Anm.) hast so eine gute Energie initiiert, die uns durchgetragen hat.
Was war dir bei der Suche nach den Kindern wichtig?
Ulrike: Dass sie im Spiel authentisch sind und dass es ihnen gutgeht. Wenn man Kinder am Set hat, die selber nicht gefestigt sind, ist es schwer für sie, in ihr normales Leben zurückzukehren. Mit Paul Ploberger und Christina Hartenthaler hatten wir zwei tolle Kindercoaches, die sehr gut auf sie aufgepasst haben.
Marie-Luise: Die Kinder waren auch kritisch: „Das war grad nicht gut, was du gespielt hast, Marie“, habe ich dann auch gehört – und auch angenommen (lacht).
Welche Momente habt ihr am intensivsten erlebt?
Gerti: Da waren viele. Aber es gibt eine Szene im Spital, vor der ich richtig Bammel hatte, obwohl meine Figur gar nicht so in die Konfrontation kommt. Ich bin selber Mama und wenn ein so kleines Geschöpf involviert ist … Ich möchte nicht zu viel verraten, aber wenn ich daran denke, muss ich jetzt noch schlucken.
Marie-Luise: Ich denke an den Moment, in dem mich, also Gitte, mein Bruder in der Entzugsklinik besucht: Sie zeigt, was es bedeutet, wenn Menschen es nicht gelernt haben, miteinander zu reden, einander mitzuteilen, wie es einem geht, was man braucht. Ich bin dankbar für meinen Beruf, weil ich dabei immer etwas übers Menschsein lerne und über die Geschenke, die man selber bekommen hat.
Mich berührt die Schwimmbad-Szene sehr: Gina schlüpft mit ihren Brüdern durch ein Loch im Zaun rein, dann bläst sie im zu großen Badeanzug selbst die Schwimmflügerl auf …
Ulrike: Ich war im Sommer oft am Herrensee in Litschau schwimmen und habe ein Mädchen beobachtet, das dort alleine, mit einem viel zu großen Badeanzug unterwegs war – und Schwimmflügerl hatte, obwohl sie in einem Alter war, in dem sie schon schwimmen können sollte. Das entstammt der Realität, wir sehen das nur oft nicht.
Respekt und Achtsamkeit einem Kind gegenüber von der ersten Sekunde an ist das Allerwichtigste.
Gerti Drassl
Was ist eine gute Mutter? Ist die Frage überhaupt zulässig?
Gerti: Ich würde zunächst einmal sagen: Es haben zwei Leute ein Kind gemacht, somit ist die Verantwortung bei beiden. Aber: Egal ob Mama, Papa, Oma, ein Freund, der sich kümmert, oder Pflegeeltern, das Wichtigste ist, dass die Person, in dem Moment, wenn sie diese Welt betritt, zu hundert Prozent als Mensch wahrgenommen wird und nicht über sie bestimmt oder hinweggegangen wird. Respekt und Achtsamkeit einem Kind gegenüber von der ersten Sekunde an ist das Allerwichtigste. Dass man Fehler macht, gehört dazu. Da muss man sich ausreden, sich entschuldigen. Das habe ich von meiner Mama gelernt, dafür bin ich ihr total dankbar.
Marie-Luise: Ich finde es toll, wenn man Kindern ein gutes Selbstwertgefühl mitgibt. Wenn ich mal ein Kind kriege, wünsche ich mir, dass es sich sicher in der Welt fühlt. Fehler passieren wie in allen Beziehungen, das finde ich nicht schlimm. In meiner Familie gab es immer die gute Regel: Man muss sich ausreden und versöhnen, bevor man auseinander- oder weggeht.
Was ich auch schön finde: Trotz allem ist der Film nicht nur traurig.
Ulrike: Dass er schöne helle Momente hat, war mir so wichtig, wie dass niemand verurteilt wird: weder die Mutter, noch die Großmutter oder die Sozialarbeiterin (gespielt von Ursula Strauss, Anm.). Die Liebe und die Zugehörigkeit sollten trotz aller Schwierigkeiten spürbar sein.
Was braucht es, um dem Schicksal zu entkommen? Geht das überhaupt?
Gerti: Man muss es selber wollen, aber es braucht auch Unterstützung von außen. Ich finde Ginas Selbstermächtigung großartig. Sie nimmt ihr Schicksal zwar an, sagt aber: Ich möchte es anders haben.
Marie-Luise: Ich habe kürzlich gelesen, dass bei armutsgefährdeten Kindern die Gefahr groß ist, dass sie irgendwann aufhören, ihre Bedürfnisse und Wünsche zu formulieren. Sie kommen an einen Punkt, an dem sie wissen, es gibt keine Erfüllung. Es ist furchtbar, wenn niemand von außen kommt, der sagt: Hey, ich sehe dich und was du brauchst.
Gerti: Da braucht es auch Achtsamkeit vom System. Die Sozialarbeiterin im Film geht nicht über die Kinder hinweg. Sie sagt: Ich traue dir zu, dass du Hilfe in Anspruch nimmst, wenn du es willst. Sie gibt den Kindern die Stimme, die sie ja haben. Auch das ist wichtig, um das Schicksal selber in die Hand zu nehmen.
Ulrike: Es geht auch um die Überwindung von Traumata. Dafür braucht es eine große Willenskraft, aber auch eine offene, wache Gesellschaft. Man muss die Menschen fragen: Was fehlt dir? Was brauchst du, um dich gut zu entwickeln?
Wird Kindern genug zugehört?
Gerti: Ich glaube, wir hören einander insgesamt nicht genug zu. Das Zuhören kann man gar nicht genug üben; es ist eines der wichtigsten Dinge, um Beziehungen gut wachsen zu lassen, privat und beruflich. Wir kommunizieren heute sehr viel schriftlich, da fehlt es total, dass man spürt, wie der andere etwas sagt oder vielleicht gerade nichts sagt. Dadurch ist das Zuhören schwieriger geworden. Wir müssen hier noch mehr investieren, die direkte Kommunikation noch lebendiger halten – gerade die mit Kindern.